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# taz.de -- Putins Expansionismus: Aufgeben ist nicht vorgesehen
> Chaos ermöglichte den Aufstieg Putins, der Stabilität versprach. Sein
> Expansionismus kann erst recht zu einem unkontrollierten Zusammenbruch
> führen.
Bild: Wladimir Putin: Machtarroganz und fatale Fehler
Der Westen betreibe aggressive Hegemoniepolitik, sei zugleich aber ein
Papiertiger, verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin jüngst beim
östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok – und wie so oft hatte er keine
großen Probleme, zwischen Herumgeopfere und Gigantomanie widersinnig hin
und her zu hopsen. Russland verliere durch die Sanktionen des Westens
nichts, behauptete er kühn, nur um dann zu drohen, dass Russland seine
Energielieferungen gänzlich einstellen werde, würden die Sanktionen nicht
aufgehoben.
Indes produziert die Autoindustrie wegen Technologiemangel [1][klapprige
Karren] ohne Airbags und, schlimmer noch, ohne moderne Bremssysteme. Selbst
in den kontrollierten Medien kann die Propaganda die erstaunlichen
Rückschläge in der Ukraine nicht mehr ignorieren. „Wenn man weiß, wir haben
die Gerechtigkeit auf unserer Seite, wieso gibt es dann keinen Sieg?“,
wimmerte ein Talkgast im Propagandafernsehen. Ein anderer fiel ihm ins Wort
und erinnerte an Stalins Postulat: „Wer Panik schürt, wird erschossen.“
Teilmobilmachung, Fake-Referenden, Nukleardrohung – Putin eskaliert immer
mehr. Selbst Putins Verbündete sind schon sauer. Die Freude in Peking ob
der globalen Krise hält sich offenbar sehr in Grenzen, und Indiens
ultrarechter Premier Narendra Modi sagte dem russischen Autokraten ins
Gesicht, „das ist jetzt nicht die Zeit des Krieges, sondern des Friedens“.
Mittlerweile fragt man sich in den internationalen Polit- und
Strategiezirkeln bange, ob das Putin-Regime eine Niederlage in der Ukraine
überstehen könnte und ob man sich nicht besser mit der Möglichkeit eines
chaotischen Zusammenbruchs in Russland vertraut mache. Nicht weniger bange
die Frage: Was hat er vor, wozu ist er fähig, wenn er mit dem Rücken zur
Wand steht?
## Die Sanktionen wirken
22 Jahre ist es jetzt her, dass Putin aus dem Hut gezaubert wurde – um nach
den neunziger Jahren, dem Jahrzehnt von Chaos und Wirren, das Land zu
stabilisieren. Selbst im Westen stieß der stille, schmächtige Mann damals
auf Wohlwollen, und auch die Grunderzählung seiner Präsidentschaft wurde
von vielen gekauft, nämlich, dass ein Land wie Russland einen gewissen Grad
an autoritärer Herrschaft brauche.
Spulen wir zurück. Es ist der 31. Dezember 1999. Der letzte Tag des
Jahrtausends. Boris Jelzin, der erste Präsident der Russischen Föderation,
tritt überraschend zurück. Jelzin übergibt die Präsidentschaft
verfassungsgemäß an den Premierminister, an Wladimir Putin, der zu diesem
Zeitpunkt noch keine fünf Monate in diesem Amt ist. Putin ist tatsächlich
„Der Mann ohne Gesicht“, wie die russisch-amerikanische Autorin [2][Masha
Gessen] vor einigen Jahren ihr Buch betitelte.
„Ein Hooligan“ sei er in seiner Jugend gewesen, gab Wladimir Putin in einem
Interview damals zu. „Ich war ein echter Schläger.“ Putin selbst ist immer
wieder auf diese Geschichten zurückgekommen, hat die Straße „meine
Universität“ genannt. Unter den vier Grundsätzen, die er aus seiner
Gangsterzeit mitgenommen habe, ist auch „Schluss Nummer drei: Ich habe
gelernt, dass man – egal ob ich im Recht war oder nicht – stark sein müsse.
Ich musste in der Lage sein, dagegenzuhalten … Schluss Nummer vier: Es gibt
keinen Rückzug, du musst bis zum Ende kämpfen.“ Vielleicht gibt uns diese
Geschichte einen Einblick in das Denken von Wladimir Putin, wie er „tickt“.
Vielleicht aber auch nur, wie er gesehen werden will. Putin, zuvor als
KGB-Mann in Dresden, war Anfang der 90er Jahre als stellvertretender
Bürgermeister in Sankt Petersburg gelandet, seiner Heimatstadt, wo er am
Stadtrand, in Trabantenstädten, in einer Arme-Leute-Gegend aufgewachsen
ist.
## Putin, der Macher
Putins Chef ist damals Anatoli Sobtschak, ehemals Rechtsprofessor und der
berühmteste russische prowestliche Reformer. Er ist eine strahlende Figur,
kein besonders guter Organisator, aber ein Trickser, der sich als Liberaler
gibt und hintenrum mit den alten Machthabern paktiert. Putin ist Sobtschaks
„Fixer“, der, der die Dinge erledigt.
Putin tut sich mit der Mafia zusammen, die damals den Großen Hafen in
Sankt Petersburg in der Hand hat. Er ist mit seinen KGB-Leuten verbunden,
zugleich schließt er Bündnisse mit dem organisierten Verbrechen. Als
Sobtschak später abgewählt wird, wechselt Putin nach Moskau in den Kreml.
Dort steigt er schnell auf. „Er war folgsam wie ein Hündchen“, heißt es
über diese Jahre.
Das Absurde an dem Manöver von 1999: Jelzin macht Putin zu seinem
Nachfolger, um den Demokraten die Macht zu retten. Putin legt in einer
Fernsehansprache seine Sicht dar. Russland ist als Macht abgestiegen,
spielt nicht einmal mehr eine zweit-, sondern eine drittrangige Rolle. „Es
wird nicht so bald geschehen – falls es überhaupt jemals geschieht –, dass
Russland eine zweite Ausgabe von, beispielsweise, den USA oder
Großbritannien wird, deren liberale Werte tiefe historische Traditionen
haben“, schrieb er.
„Für Russen ist ein starker Staat keine Abnormalität, die man loswerden
will. Im Gegenteil, sie sehen ihn als Quelle und Garanten der Ordnung an.“
Es ist ein Kreis von Hardlinern aus den Sicherheitsdiensten, allen voran
aus Putins KGB-Seilschaften, der nach dem Amtsantritt Putins zur
Jahrtausendwende vor 22 Jahren die Geschicke im Kreml bestimmt und die
Macht immer mehr konsolidiert hat.
## Ununterbrochenes Abschlachten
Mit dem Tschetschenienkrieg inszeniert sich Putin als starker Mann: „Wir
werden sie in ihren Scheißhäusern ausräuchern“, erklärt er. Tschetschenien
wird, wie das einmal [3][eine Journalistin] formulierte, zu einem
„[4][Schlachthaus, das 24 Stunden am Tag in Betrieb ist]“. Die
„Oligarchen“, also jene Freibeuter, die die Jahre der chaotischen
Privatisierung nutzten, werden entmachtet, besonders jene, die unter
Verdacht stehen, sie könnten in die Politik oder auch nur in die
öffentliche Meinung eingreifen wollen – sie gehen ins Exil oder landen im
Straflager oder sterben auf unerwartete Weise.
Die neuen „Oligarchen“ sind eigentlich keine mehr, sondern KGB-Funktionäre.
Sie üben sozusagen nur den Job des Oligarchen aus, was nicht heißt, dass
sie sich nicht Milliarden auf die eigenen Konten verschieben dürfen. Die
pluralistische, offene Gesellschaft wurde wie in einem schleichenden Putsch
immer mehr abgewürgt – und mit zunehmender Rasanz versinkt das Land ab 2012
in eine vollkommene Despotie. Wer im „System Putin“ heute wirklich die
Macht hat, weiß niemand so genau.
Sicher ist nur: Da ist Nikolai Patruschew, der Chef des Nationalen
Sicherheitsrates, ein KGB-Mann, der seit bald dreißig Jahren an Putins
Seite agiert; da ist Sergei Naryschkin, der Chef des
Auslandsgeheimdienstes; da ist [5][Sergei Schoigu], der
Verteidigungsminister; da ist Igor Setschin, der schon in Sankt Petersburg
als Putins Sekretär arbeitete, und nun das Ölkonglomerat Rosneft leitet. Da
ist Gazprom-Chef Alexei Miller, auch er aus Jelzins Sankt Petersburger
Seilschaft.
Als Chef des Hochseehafens war er gewissermaßen Verbindungsmann zur
organisierten Kriminalität. Da ist Putins Sprecher Dmitri Peskow, der dem
Autokraten schon seit 22 Jahren zur Seite steht. Allesamt sind sie radikale
Konservative mit Schlagseite Richtung Faschismus, die Russland als
antiwestliche Macht sehen, als Antipoden zum dekadenten [6][„Gayropa“]. Vom
ersten Tag der Herrschaft an entwickelt die Putin-Truppe eine Art
„Staatsideologie“ mit mehreren Komponenten.
## Ein erniedrigtes, beleidigtes Volk
Die Idee von der „souveränen Demokratie“, also eine gelenkte
Scheindemokratie, in der ein starker Einziger an der Spitze steht: Der
Anführer, Präsident, Zar. Das zweite Element ist Patriotismus, verbunden
mit Volkstümlichkeit. Das „Narod“, verstanden als „einfaches Volk“, mit
seinem gesunden Patriotismus. Drittens: Territorium, das Reich, das
Imperium des russischen Vielvölkerstaates.
2005 bezeichnet Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte
geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Mindestens Belarus,
Georgien und vor allem die Ukraine werden als historischer Teil einer
„Russkyj Mir“, der „russischen Welt“ verstanden. Und über all dem lieg…
gewissermaßen als Guss, ein Gefühl der aggressiven Gekränktheit. Putin, so
meint der Slawist [7][Riccardo Nicolosi], beschreibt Russland als ein Volk
der „Erniedrigten und Beleidigten“, er modelliert in seiner Rhetorik
Russland „als ein zutiefst gekränktes Land, das vom Westen wiederholt
beleidigt und betrogen worden sei“.
Russland sei ein „kriegstreiberischer Staat geworden, der von einer Clique
regiert wird“, sagte Putins höchster Wirtschaftsberater Andrei Illarjonow
und trat offiziell aus Protest gegen die russisch-ukrainischen Beziehungen
bereits 2005 zurück. Fuhr der Putin-Zug von Beginn an in Richtung
KGB-Mafia-Despotie? Mit dem revanchistischen Ziel der Wiedererrichtung des
Imperiums, Expansionismus inklusive? Das ist hochspekulativ.
Oft wird angemerkt, dass der Westen dazu einen Beitrag geleistet hat –
nicht selten, um Imperialismus und Despotie als verständliche Reaktion auf
Abfolgen von Kränkungen zu verharmlosen. Das macht die Frage „[8][Wie haben
wir Russland verloren?]“ trotzdem nicht völlig abwegig. Die ökonomische
Schocktherapie, die vornehmlich US-Berater dem Land in den neunziger Jahren
empfohlen haben, hat das Chaos und die Wirren angerichtet, die die
Sehnsucht nach einen Anführer nährten, der für Ordnung sorgt.
Machtarroganz und fatale Fehler – teils der Leute rund um Bill Clinton und
vor allem der George-W.-Bush-Regierung – haben ihre Beiträge geleistet.
Entschuldigen können solche Erklärungen sowieso nichts. Sonst könnte man
auch die Nazis mit dem – zweifelsohne zutreffenden – Hinweis rechtfertigen,
dass der [9][Versailler Vertrag] und fatale Fehler der Entente-Staaten
ihren Aufstieg begünstigt haben.
Putin hat sein Regime auf das Versprechen von Stabilität, nationaler Würde,
expansiver Verschärfung und imperialer Restauration begründet. Das macht
ihn jetzt verwundbar. Ein Krieg, der schiefgeht, stellt sein ganzes
Narrativ in Frage.
24 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.bild.de/auto/auto-news/auto-news/ohne-airbag-abs-und-esp-russla…
[2] /Masha-Gessen-bei-der-Buchmesse/!5583199
[3] https://www.robertboschacademy.de/de/fellow/lilia-shevtsova
[4] https://www.amazon.de/-/en/Fiona-Hill/dp/0815726171
[5] /Verteidigungsminister-Sergei-Schoigu/!5844262
[6] https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/digitale-desinformation/51319…
[7] https://geschichtedergegenwart.ch/erniedrigte-und-beleidigte-vladimir-putin…
[8] https://www.amazon.com/Who-Lost-Russia-World-Entered/dp/1786070413
[9] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/321320/versa…
## AUTOREN
Robert Misik
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