# taz.de -- Bundeskanzler auf Staatsbesuch: A Germanman in New York | |
> Olaf Scholz ist zur UN-Generalversammlung gereist. Die viel geforderte | |
> deutsche Führungsrolle scheint ihm dabei manchmal selbst nicht ganz | |
> geheuer. | |
Bild: Er war noch niemals in New York: Olaf Scholz in Manhattan | |
NEW YORK taz | Der Mann, der an diesem sonnigen Spätsommertag im New Yorker | |
Bryant Park im Schatten der Platanen sitzt, sieht aus wie einer von vielen | |
New Yorkern, die hier ihre Mittagspause verbringen. Ein unscheinbarer Typ, | |
weißes Hemd, schwarze Lederschuhe, das Sakko hat er über die Rückenlehne | |
des Klappstuhls gehängt. Er isst einen Hamburger und unterhält sich mit dem | |
Mann neben ihm. | |
Einzig die bulligen Sicherheitsleute, die die beiden abschirmen, erregen | |
ein wenig Aufmerksamkeit. Frage an ein junges Pärchen, das in der Nähe | |
steht. Ob sie wissen, wer das sei? „No idea.“ Der deutsche Bundeskanzler. | |
„Really? How exciting. The man after Mrs Merkel?“ Genau der. Olaf Scholz | |
heißt er übrigens. | |
Seit fast einem Jahr ist Olaf Scholz im Amt. Bis nach New York hat sich | |
sein Name noch nicht herumgesprochen. Merkel kannten nach 16 Jahren | |
Kanzlerinnenschaft alle. Zum ersten Mal – als Kanzler und überhaupt – ist | |
ihr Nachfolger in dieser Woche nach New York gereist, zur 77. | |
Generalversammlung der Vereinten Nationen. Scholz betritt die Weltbühne | |
unauffällig, quasi durch den Seiteneingang. | |
Bevor er am Abend vor den UN spricht, zeigt ihm der Schriftsteller Daniel | |
Kehlmann seine Lieblingsplätze in New York – die Bibliothek und eben den | |
dahinter liegenden Park. Kehlmann lebt in Berlin und New York. Im Januar | |
war er bei einer Kulturveranstaltung zu Gast im Kanzleramt, er lud Scholz | |
nach New York ein, so kam es zum Lunch im Park. | |
Passt aber auch irgendwie. Kehlmanns Bestseller heißt „Die Vermessung der | |
Welt“ – ein „tolles Buch“, findet Olaf Scholz. Und um die Neuvermessung… | |
Welt geht es auch auf der UN-Generalversammlung der 193 Mitgliedsländer, | |
dem jährlichen Schaulaufen von Demokraten und Potentaten. | |
Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin | |
im Februar die europäische Nachkriegsordnung in Frage gestellt. Was zählt | |
die Unverletzlichkeit von Grenzen, was das Völkerrecht, wenn man glaubt, | |
ein anderes Land überfallen zu können, einfach weil man eine mächtige Armee | |
hat? Gut, vor Russland haben das schon andere Mitglieder des | |
Sicherheitsrates probiert, man denke an amerikanische Bomber über Vietnam. | |
Doch dass ein Mitglied des Sicherheitsrats so ungeniert und mitten in | |
Europa sein Nachbarland überfällt, hat eine neue Qualität. Normalerweise | |
hält sich die UNO raus aus Konflikten, an denen eines der fünf | |
Sicherheitsratsmitglieder direkt beteiligt ist. Diesmal ist es anders. Im | |
März verurteilte die UN-Generalversammlung mit einer Mehrheit von 141 | |
Staaten den russischen Angriff. | |
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist eines der großen Themen hier. Mitten | |
in die jährliche Vollversammlung hinein verkündet Putin am Mittwoch dann | |
auch noch „Referenden“ in den besetzten Gebieten und die Mobilisierung von | |
Reservisten. Die EU kündigt eine Verschärfung der Sanktionen an. Die | |
Schlacht um die Ukraine tobt auf vielen Feldern, während die | |
Politiker:innen auf dem UN-Gelände über friedliche Konfliktlösungen | |
diskutieren. | |
Der Ukrainekrieg führt der UNO erneut auch ihre Unfähigkeit vor Augen, | |
ihrer Rolle als Friedensstifterin gerecht zu werden und die Regeln, die | |
alle unterschrieben haben, wirklich durchzusetzen. Wenn ein ständiges | |
Mitglied des Sicherheitsrates sie verletzt, was hindert andere Länder | |
daran, das Gleiche zu tun? | |
Eine Reform des UN-Sicherheitsrates ist überfällig. Selbst der | |
amerikanische Präsident Joe Biden räumt bei seiner Rede die Notwendigkeit | |
von Reformen ein. Er spricht sich dafür aus, die Zahl der fünf ständigen | |
und zehn nichtständigen Ratsmitglieder zu vergrößern und Länder aus Afrika, | |
Lateinamerika und der Karibik mit reinzuholen. Sie sind im einzigen | |
Entscheidungsgremium der UN nicht als ständige Mitglieder vertreten. | |
Auch Deutschland nicht. Dabei ist man nach den USA mittlerweile der | |
zweitgrößte Finanzier der Vereinten Nationen. Scholz kündigt in New York | |
zwar eine erneute Kandidatur für 2026 an. Doch die Rufe, dass Deutschland | |
jenseits des Rates sein Gewicht in die internationale Waagschale werfen | |
und führen soll – politisch, humanitär, militärisch –, sind nicht mehr zu | |
überhören. Scholz hat einst versprochen: Wer Führung bestelle, bekomme sie | |
bei ihm. Nun soll er liefern. | |
## Plätze spärlich besetzt | |
Dabei verkörpert der Kanzler das Gegenteil eines Leaders. Er redet oft so | |
leise, dass man ihn kaum versteht. Die große Bühne ist nicht sein | |
Lieblingsplatz. Die neue deutsche Führungsrolle scheint ihm manchmal selbst | |
nicht ganz geheuer zu sein. Man hat auch nicht unbedingt den Eindruck, dass | |
die Welt auf Olaf Scholz gewartet hat, [1][als er am Dienstagabend im | |
Sitzungssaal der Generalversammlung ans Rednerpult geleitet wird]. Die | |
1.800 Plätze in der Halle sind nur spärlich besetzt, müde | |
Diplomat:innen hocken hinter flimmernden Laptops. | |
Zehn Minuten vor Scholz’ Auftritt schlüpft immerhin die grüne | |
Außenministerin Annalena Baerbock auf die deutsche Bank, gemeinsam mit dem | |
Staatssekretär im Kanzleramt und dem außenpolitischen Berater. Wenn der | |
Chef spricht, herrscht Anwesenheitspflicht. | |
So halten es übrigens auch die anderen Länder, man kommt, klatscht und geht | |
wieder. Was nach deutscher Demütigung aussieht, ist Business as usual. Nur | |
als US-Präsident Joe Biden redet, als er Russland „mit seinem brutalen, | |
unnötigen Krieg“ eine „schamlose“ Verletzung der UN-Charta vorwirft, ist | |
der Saal so voll, dass sogar Leute stehen müssen. | |
Der Krieg in der Ukraine ist auch einer um die Narrative. Die russische | |
Erzählung, dass der Westen mit seinen Sanktionen schuld sei an den | |
steigenden Preisen, verfängt im globalen Süden. Scholz widerspricht vor der | |
grünen Marmorwand in der Generalversammlung. „Nicht ein Sack Getreide wurde | |
aufgrund dieser Sanktionen zurückgehalten.“ | |
## Klingt nach viel Pathos | |
Unbestritten ist, dass die Druckwellen dieses Krieges bis weit über den | |
Äquator reichen. Er treibt die Preise für Energie und Lebensmittel in die | |
Höhe, in den Ländern des globalen Südens werden sie unbezahlbar. Der | |
ghanaische Präsident Nana Addo Dankwa Akufo-Addo drückt das in seiner Rede | |
so aus: „Jede Kugel, jede Bombe, die ein Ziel in der Ukraine trifft, trifft | |
auch unsere Taschen und unsere Ökonomien in Afrika.“ | |
Am Nachmittag, noch vor der Rede in der Generalversammlung, hatte Scholz | |
die afrikanischen Regierungschef:innen, darunter auch Akufo-Addo im | |
Deutschen Haus empfangen, einem schlanken Hochhaus mit Art-Déco-Details in | |
Sichtweite des UN-Sitzes. Fünfzig Minuten waren geplant, es dauert länger. | |
Scholz wirkt zufrieden nach dem Gespräch. Man habe der russischen Erzählung | |
entgegentreten können, heißt es aus Teilnehmerkreisen. Doch die Erwartungen | |
der Afrikaner:innen an Deutschland sind hoch. | |
Der Satz fiel: Man wolle das deutsche Gewicht in Afrika spüren. Eine | |
deutsche Führungsrolle erwarten viele Länder des Südens auch in der | |
Entwicklungspolitik, sie soll nachhaltig sein und auf Augenhöhe | |
stattfinden. | |
Das kann eine Chance sein. Denn Scholz ist auch mit dem Ziel nach New York | |
aufgebrochen, in dieser neu zu vermessenden Welt, in der Großmächte wie | |
Russland und China ihre Claims mit Gewalt und Geld abstecken, neue | |
Verbündete zu suchen. | |
„Es wird große erfolgreiche Nationen in Afrika und in Südamerika geben“, | |
hatte Scholz am vergangenen Sonntag, einen Tag vor seiner Abreise, im | |
Deutschlandfunk gesagt. Nicht alle Länder seien Demokratien, aber sie | |
würden nicht ihre Nachbarn überfallen und hätten mehr oder weniger | |
rechtsstaatliche Prinzipien. Diese seien Bündnispartner. „In dieser Welt | |
für Zusammenarbeit zu werben und für die Werte, die auch die Charta der | |
Vereinten Nationen ausmachen, das ist meine Mission“, sagte Scholz. | |
Klingt nach viel Pathos, aber in New York bemüht sich Scholz tatsächlich | |
darum. Er trifft unter anderem die Präsidenten von Niger, Guinea-Bissau und | |
Chile. Schon nach dem G7-Gipfel im bayerischen Elmau hatte er neben den | |
Staatschefs der reichsten Industrieländer auch die von Indien, Indonesien, | |
Argentinien, [2][Senegal] und Südafrika eingeladen. | |
## Krieg hat Hungerkrise verschärft | |
Scholz weiß aber auch: Nette Worte und Gesten allein reichen nicht. Es | |
gilt, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Deutschland hat | |
während der Pandemie Patente für Impfstoffe zurückgehalten. Die reichen | |
Industrieländer neigen in Krisenzeiten zudem dazu, als Erstes ihre Ausgaben | |
für Entwicklungshilfe zu kürzen. | |
Unter den 196 Einladungen, die die deutsche UN-Vertretung im Voraus | |
erhalten hatten, pickt sich Scholz auch diese beiden heraus: Am Dienstag | |
spricht er auf einem Gipfel für Ernährungssicherheit, den der Vorsitzende | |
der Afrikanischen Union, der sengalesische Präsident Macky Sall, einberufen | |
hat. | |
Der Ukrainekrieg hat die Hungerkrise nicht ausgelöst, sondern verschärft: | |
[3][Seit drei Jahren steigt die Zahl der Hungernden an], bis zu 325 | |
Millionen Menschen sind derzeit weltweit betroffen. Haupttreiber ist der | |
Klimawandel. Scholz verspricht, die Länder, „die am stärksten mit Verlusten | |
und Schäden durch den Klimawandel zu kämpfen haben“, nicht allein zu | |
lassen. Bis zur Klimakonferenz in Ägypten wolle man einen globalen | |
Schutzschirm gegen Klimarisiken entwickeln. | |
Am Mittwoch dann hält er eine kurze Rede anlässlich der Wiederauffüllung | |
des globalen Fonds zur Bekämpfung von Malaria, Aids und Tuberkulose. | |
Deutschland will über die nächsten drei Jahre 1,3 Milliarden Euro | |
beisteuern. Der Betrag ist relativ. Der UN-Generalsekretär hat die | |
Finanzierungslücke für alle humanitären Hilfsprogramme mit 32 Milliarden | |
Dollar beziffert. Doch unter Scholz’ Vorgängerin Angela Merkel wollte die | |
FDP die Zahlungen an den Fonds vor einem Jahrzehnt noch ganz einstellen. | |
## Noch ein langer Weg | |
Bis zu „einer Zusammenarbeit, die Augenhöhe nicht nur behauptet, sondern | |
herstellt“, wie es Scholz in der Generalversammlung beschreibt, ist es noch | |
ein langer Weg. Im Kampf gegen globale Krisen wie den Klimawandel braucht | |
man diese Bündnisse aber. Ob man Olaf Scholz irgendwann auch in New York | |
erkennt, wird auch davon abhängen, wie weit er dabei kommt. | |
Am Wochenende ist der Bundeskanzler schon wieder unterwegs, er reist nach | |
Saudi-Arabien, in die Arabischen Emirate und nach Katar. Diesmal geht es | |
nicht um Werte. Sondern um Gas und Öl. Um schnöde Eigeninteressen also. | |
23 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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