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# taz.de -- Hohe Energiekosten: Die aufhaltsame Pleitewelle
> Die Insolvenzzahlen liegen noch auf niedrigem Niveau. Das werde sich bald
> ändern, warnen Industrie- und Verbraucherverbände.
Bild: Bäckerprotest in Niedersachsen: Muss der Ofen bald ausbleiben?
Berlin taz | Die Industrieverbände sind in heller Aufregung: „Immer mehr
Unternehmen sagen uns, dass sie möglicherweise bald ihre Produktion oder
ihr Geschäft einschränken oder gar einstellen müssen“, sagte Sebastian
Bolay, Abteilungsleiter bei der Bundesorganisation der Industrie- und
Handelskammern (DIHK). „Das betrifft Bäcker, die zunehmend teures Gas
brauchen, ebenso wie IT-Firmen, deren Stromrechnung massiv steigt.“
Die Wirtschaft sei „in ihrer gesamten Breite betroffen“. Auch der
Bundesverband der Deutschen Industrie sieht eine Lawine von Konkursen auf
Deutschland zukommen.
Augenblicklich rollt trotz steigender Energiepreise aber keine Pleitewelle
– zumindest noch nicht. Zwar sei die Zahl „der beantragten Regelinsolvenzen
im August 2022 um 6,6 Prozent gegenüber Juli gestiegen“, [1][hieß es beim
Statistischen Bundesamt] am Montag. Allerdings liegt dieser Indikator, der
mehrheitlich Firmen erfasst, seit 2020 auf außergewöhnlich niedrigem
Niveau.
In der ersten Hälfte dieses Jahres gab es sogar weniger Firmenpleiten als
im Vorjahr. „Im ersten Halbjahr 2022 haben die deutschen Amtsgerichte 7.113
beantragte Unternehmensinsolvenzen gemeldet – 4,0 Prozent weniger als im
ersten Halbjahr 2021“, heißt es beim Statistischen Bundesamt.
## Anzeichen für zunehmende Zahlungsprobleme
Ähnliches erklärte die Wirtschaftsauskunftei Schufa: Die „Negativquote bei
Unternehmen lag im Juli bei 9,1 Prozent“, deutlich niedriger als in den
Vormonaten. Damit sind Firmen gemeint, bei denen es Hinweise auf
Zahlungsschwierigkeiten gibt.
Auch die Auskunftei Creditreform analysierte: „Trotz einer leichten Zunahme
der Pleitefälle bei Unternehmen befinden wir uns in Deutschland noch auf
einem historisch niedrigen Niveau.“ Ebenso stagnierten „momentan die
Verbraucherinsolvenzen und auch die Überschuldung der Verbraucher“. Laut
dem Statistischen Bundesamt sank die Zahl der Privathaushalte, die
Insolvenz anmeldeten, im ersten Halbjahr 2022 gegenüber dem
Vorjahreszeitraum sogar um ein Fünftel.
Die Frage ist nun, wie es weitergeht. Die entspannte Lage „wird sich in den
kommenden Wochen und Monaten ändern“, prognostizierte Patrik-Ludwig
Hantzsch, Sprecher von Creditreform. Zwei Entwicklungen kommen seiner
Ansicht danach zusammen. Die umfangreichen Unterstützungsprogramme der
Regierungen während der Coronapandemie haben viele Konkurse von Unternehmen
verhindert.
Diese oft angeschlagenen Firmen trifft nun die Energie-Inflation, deren
Kosten sie nicht in vollem Umfang an die Kunden weitergeben können. „Daher
wird es demnächst vermehrt zu Marktaustritten kommen“, schätzte Hantzsch.
Frühindikatoren sind laut Creditreform bereits zu sehen: „Derzeit sinkt die
Zahlungsmoral branchenübergreifend – die Unternehmen brauchen deutlich
länger, um ihre Rechnungen zu begleichen.“
## Warnungen von Sozialberatern
Dieselbe Überlappung der Coronafolgen und aktuellen Preissteigerungen
spielt für Privathaushalte eine Rolle. Nina Neumann, Schuldnerberaterin
beim Sozialdienst katholischer Frauen und Männer in Düsseldorf, hat diese
Erfahrung gemacht: „Die Privatinsolvenzen haben wegen Corona schon
zugenommen.“
Wesentliche Ursache seien der Verlust des Arbeitsplatzes und
Niedrigeinkommen durch Kurzarbeit. Nun kämen die steigenden Gas- und
Strompreise dazu. „Noch versuchen die Leute, die Löcher im Budget irgendwie
zu stopfen“, sagte Neumann, „wir rechnen aber damit, dass uns in vier bis
sechs Wochen viel mehr Hilferufe erreichen.“
Sladana Wehrle-Paradzik von der Schuldnerberatung der katholischen Caritas
im baden-württembergischen Freiburg berichtete: „Seit Mitte Juni nehmen die
Anfragen von Privatleuten massiv zu – dabei überlagern sich die
Finanzprobleme wegen Corona mit der aktuellen Inflation.“ Manche
Privathaushalte müssten jetzt schon deutlich mehr Geld für Gas und Strom
ausgeben. „Dann haben sie am Monatsende kein Geld mehr, um Lebensmittel zu
kaufen“, sagte Wehrle-Paradzik.
Kommt es also ganz dicke – für Firmen und Haushalte? Nicht unbedingt. Die
Pleiteprophezeiungen haben schließlich einen Sinn, wollen ihr eigenes
Nichteintreffen erreichen. Das hat schon einmal geklappt: Der große
Wirtschaftscrash wurde auch bei Corona vorhergesagt – und blieb aus. Auch
diesmal kursieren Forderungen an die Politik: „Die Regierung sollte schnell
entscheiden, auch den betroffenen Unternehmen aus dem Mittelstand einen
Teil der Energiekosten zu ersetzen“, sagte zum Beispiel Sebastian Bolay vom
DIHK.
Dass es in diese Richtung gehen könnte, ließ Wirtschaftsminister Robert
Habeck (Grüne) vergangene Woche [2][im Bundestag bereits durchblicken]. Die
Verkündigung [3][des dritten Entlastungspakets] liegt erst eine Woche
zurück, schon wird das vierte debattiert.
12 Sep 2022
## LINKS
[1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Aktuell/aktuelle-insol…
[2] /Wirtschaftsminister-in-Bedraengnis/!5876792
[3] /Oekonom-zum-Entlastungspaket/!5876372
## AUTOREN
Hannes Koch
## TAGS
Energiekrise
Insolvenz
Energiepreise
Schwerpunkt Armut
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