| # taz.de -- Dagmar Schipanski ist tot: Mit Mut zum Risiko | |
| > Dagmar Schipanski ist im Alter von 79 Jahren gestorben. Die | |
| > CDU-Politikerin war eine wichtige politische Integrationsfigur. | |
| Bild: Dagmar Schipanski 2008 | |
| Sie hätte zwar nicht die erste Bundespräsidentin überhaupt sein können, | |
| aber die erste nach der Wiedervereinigung: Dagmar Schipanski – Physikerin, | |
| promoviert, parteilos, in der DDR Dozentin und nach der Wende Professorin, | |
| Dekanin und später Rektorin der Technischen Universität Ilmenau in | |
| Thüringen – kandidierte [1][1999 für die CDU] gegen den SPD-Mann Johannes | |
| Rau, den die rot-grüne Koalition aufgestellt hatte, und setzte einen | |
| Achtungserfolg. Schipanski landete mit 572 Stimmen im zweiten Wahlgang | |
| hinter Rau, der 690 Stimmen für sich vereinnahmen konnte. | |
| Das war seinerzeit sensationell und die bis dahin erfolgreichste Kandidatin | |
| im Rennen um das Bundespräsidentschaftsamt. Nun kannte die gesamte Republik | |
| jene Frau, die bis dahin eher in ihrer Heimat Thüringen einen Namen hatte. | |
| Jetzt ist Dagmar Schipanski im Alter von 79 Jahren gestorben. Wie ihre | |
| Familie mitteilte, sei sie bereits am Mittwoch einer schweren Krankheit | |
| erlegen. | |
| Der [2][Deutsche Frauenrat (DF),] die größte Frauenlobby und die politische | |
| Interessenvertretung von rund 60 bundesweit aktiven Frauenorganisationen, | |
| unterstützte damals Schipanskis Kandidatur. Es ist Zeit für eine Frau an | |
| der Spitze des Staates, sagten die Aktivistinnen. Trotz der | |
| DF-Wahlkampagnen, später auch für die Politikwissenschaftlerin Gesine | |
| Schwan, die zweimal als Präsidentschaftskandidatin antrat, stehen bis heute | |
| [3][ausschließlich Männer] an der [4][Spitze des Staates.] Deutschland | |
| brauche eine „umfassende Modernisierungsoffensive“, sagte Schipanski damals | |
| in einer ihrer Vorstellungsreden: „Forscherdrang und Mut zum Risiko werden | |
| die Zukunft gestalten.“ | |
| Schipanski wurde zwar nicht die erste Repräsentantin der Bundesrepublik, | |
| aber sie war sehr wohl an vielen anderen Stellen die Erste: Als erste Frau | |
| führte sie ab 1996 den [5][Wissenschaftsrat] an, das wichtigste | |
| wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Deutschland, und sie war die | |
| erste Frau an der Spitze einer technischen Hochschule in der | |
| Bundesrepublik. | |
| Diese Erfolge wurden ihr nicht in die Wiege gelegt. In Sättelstädt im | |
| Landkreis Eisenach geboren, studierte sie Angewandte Physik an der | |
| Technischen Hochschule Magdeburg und wurde Oberassistentin an der TH | |
| Ilmenau. Doch ohne SED-Parteibuch und Mitgliedschaft in der evangelischen | |
| Kirche blieb ihr eine weitere wissenschaftliche Karriere in der DDR | |
| verwehrt – trotz eines harten Zusatzstudiums am Institut für Halbleiter an | |
| der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Nowosibirsk und einer | |
| Promotion 1976 auf dem Gebiet der Festkörperelektronik. | |
| Nach ihrer Niederlage 1999 engagierte sie sich fortan ausschließlich | |
| politisch. Im Jahr 2000 wurde sie CDU-Mitglied, bis 2004 führte sie das | |
| thüringische Wissenschaftsministerium und war in dieser Rolle 2002 | |
| turnusgemäß Präsidentin der Kultusministerkonferenz. Sie war Mitglied des | |
| Bundesrates und dort von 1999 bis 2004 Vorsitzende des Kulturausschusses. | |
| Von 2004 bis 2009 saß sie im Thüringer Landtag und war dessen Präsidentin. | |
| 2009 schied sie aus dem Landtag aus, mit ihrem 14. Listenplatz gelang ihr | |
| der Wiedereinzug nicht. | |
| Schipanski galt als spröde und mitunter ein wenig sperrig, als Frau und als | |
| eine aus dem Osten wurde sie nicht in jedem Fall ernst genommen und vor | |
| allem unterschätzt. Frauen in der Politik werden, so sagte sie einmal, | |
| „nicht von Freunden begleitet, sondern von Misstrauen, Neid und vielleicht | |
| Argwohn“. Das hielt sie nicht davon ab, sich als Politikerin für ein | |
| besseres Verständnis zwischen Ost und West einzusetzen. „Wir haben nicht | |
| gelernt, unsere Stimme laut zu machen“, sagte Dagmar Schipanski einst: „Die | |
| Stimme der Ostdeutschen ist leise.“ | |
| Das wollte sie ändern – und leitete von 2007 bis 2009 die CDU-Kommission | |
| „Neue Bundesländer – Stand der Deutschen Einheit“. Ihr Fokus: Gleiche | |
| Lebensverhältnisse in Ost und West. Und: Anerkennung der Leistungen von | |
| Frauen in Familie und Beruf – etwas, das sie aus eigenem Erleben gut | |
| kannte. | |
| Sie hat sich selbst nie als Feministin bezeichnet, das war in ihrer | |
| Generation und vor allem im Osten nicht üblich. Als Frau, die mit Klugheit, | |
| Beharrlichkeit, Fleiß und Wissen ihr Leben als Wissenschaftlerin, | |
| Politikerin und Mutter zusammenband, darf sie gestrost als Vorbild gelten: | |
| für Frauen aller Generationen. | |
| 9 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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