# taz.de -- Klimakrise in Deutschland: Wo bleibt der Aufschrei? | |
> Keiner drängt auf Klimaschutz, weil das Problem weit weg ist, hieß es | |
> Früher. Jetzt brennen Wälder und trotzdem ist die Erderhitzung kein | |
> Thema. | |
Bild: Die Bundeswehr musste im Juli beim Löschen helfen und schöpfte Wasser a… | |
Wer sich ernsthaft mit der Klimakrise beschäftigt, fragt sich irgendwann: | |
Warum gibt es keinen Aufschrei? Warum stürmen die Leute nicht die | |
Regierungs- und Konzernzentralen, wenn sie die Daten und Prognosen der | |
Wissenschaft hören, und verlangen sofortigen, radikalen Klimaschutz? | |
Die Antwort war lange klar: Die Krise ist nicht akut, sie kommt | |
schleichend, ist potenziell lebensbedrohlich, aber nicht hier und jetzt. | |
[1][Es trifft andere, die Armen und die weit Entfernten.] Wir werden in | |
unseren Routinen nicht gestört. | |
Jetzt ist alles anders. In diesem Sommer trocknete der Rhein aus, in Berlin | |
brannte tagelang der Grunewald, Felder wurden zur Steppe. Die Klimakrise | |
ist nicht mehr weit entfernt, sondern hier und jetzt. Sie trifft nicht | |
(nur) Pakistan und Südafrika, sondern auch Berlin-Zehlendorf und die | |
Loreley. Und: kein Aufschrei. Ein Spiegel-Titel, einmal „Hart aber fair“. | |
Ansonsten: Schweigen im staubtrockenen Walde. Erregt debattieren wir über | |
einen möglicherweise kalten Winter statt über den tatsächlich heißen | |
Sommer. Warum? | |
Fragt man das ExpertInnen und Engagierte, herrscht zunächst Ratlosigkeit. | |
Dann heißt es: zu viele Krisen: Krieg, Inflation, Energiepreise, Covid – | |
und auch noch Klima. „Da rutscht natürlich das Klima hintenrunter“, sagt | |
eine Wissenschaftlerin. Die Leute seien müde und wollen nicht noch die | |
nächste schlechte Nachricht hören. Sie will sich aber nicht zitieren | |
lassen, weil sie über diese Frage noch nicht tiefgehend nachgedacht hat. | |
Was ja auch schon etwas über Prioritäten aussagt. | |
## Einige vermuten, die Grünen seien schuld, irgendwie | |
Andere Erklärung: Großdemos wie bei Fridays for Future 2019 seien zwar | |
wieder möglich, aber Pandemieangst und Masken verderben den Spaß am | |
Protest-Happening. Und: Hitzesommer gibt es immer in den Ferien. Da aber | |
sind alle auf Ausspannen und „mir doch egal“ gepolt statt auf Protest und | |
Aktion. | |
Andere vermuten, [2][die Grünen seien schuld, irgendwie]: weil sie jetzt in | |
der Bundesregierung in vier Ministerien den Klimaschutz propagieren, | |
erschlaffe die Bereitschaft, sich zu engagieren. | |
Eine beunruhigende Ruhe hat Brigitte Knopf festgestellt, Generalsekretärin | |
des Klima-Thinktanks MCC: Die Menschen gewöhnten sich an den Klimawandel. | |
Es ist eine mentale Anpassung an die Katastrophe, ohne sich physisch oder | |
baulich wirklich anzupassen. Während der Körper überhitzt, denkt der Kopf, | |
das sei normal. „Mein Nachbar hat früher noch den Rasen gesprengt, in | |
diesem Jahr hat er aufgegeben“, sagt Knopf. „Das ist also das neue Normal.�… | |
Die Wissenschaft nennt das Phänomen „shifting baselines“: Wenn | |
Ungewöhnliches häufig passiert, wird es zur Norm. Der erste Dürresommer | |
2018 war ein Skandal. Jetzt ist akzeptiert, dass es im deutschen Sommer | |
kaum noch regnet. | |
## Gewöhnung an die Katastrophe | |
Und: Die Akzeptanz der Katastrophe habe offenbar schon im Feuilleton | |
stattgefunden, sagt Knopf. Sie verweist auf einen großen Text im Kulturteil | |
der Süddeutschen Zeitung zu den Bränden im Elbsandsteingebirge, wo ein | |
romantisches Gemälde von Caspar David Friedrich vor einem brennenden Wald | |
mit „Wanderer über dem Flammenmeer“ betitelt wurde. „In dem ganzen Text | |
findet keine Erwähnung des Klimawandels statt“, sagt Knopf entgeistert. Sie | |
sieht darin die Gewöhnung an die Katastrophe und eine Romantisierung der | |
Naturgewalt, bei der ignoriert werde, dass sie menschengemacht ist. | |
Die Krise werde also normal, aber es fehle der Bezug zur Klimapolitik. | |
„[3][Dass wir die Energiewende machen, ist akzeptiert.] Aber dass wir sie | |
machen, um die Folgen und das Eskalieren der Erwärmung zu bekämpfen, hat | |
kaum jemand parat“, sagt die Wissenschaftlerin, die im Expertenrat für | |
Klimafragen die Regierung berät. Deshalb gebe es auch kaum eine Verbindung | |
zum eigenen Leben: Klimawandel? Schlimm. Aber nach Kalifornien, wo die | |
Wälder ebenfalls abfackeln, fliegen wir trotzdem. | |
„Wir Menschen sind unglaublich anpassungsfähig“, sagt Gerd Rosenkranz, | |
ehemals Leiter Grundsatzfragen bei Agora Energiewende. Wir kämen mit | |
tiefgreifenden Änderungen unseres Lebensumfelds zurecht, ohne selbst etwas | |
an unserem Leben zu ändern. „Unsere erstaunliche Anpassungsfähigkeit hat | |
uns bisher das Überleben gesichert.“ Jetzt könnte sich das umdrehen und | |
verhindern, dass wir die Katastrophe rechtzeitig begreifen und abwehren. | |
Nicht mal dann, wenn vor unseren Füßen der Rhein austrocknet. | |
22 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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