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# taz.de -- Wälder werden Netto-CO2-Produzenten: Finnlands wackliger Wunschtra…
> Das Land will auch in der Klimaneutralität viel CO2 ausstoßen und durch
> kohlenstoffbindende Natur ausgleichen. Doch die spielt nicht mit.
Bild: Ob Abholzung oder wie hier im Juli 2021 Waldbrände: Finnlands Wahrzeiche…
Helsinki taz | Tausende Menschen in Finnland kämpften am Samstag für ihren
Wald. Viele von ihnen waren auch am Freitag schon einmal beim [1][globalen
Klimastreik von Fridays for Future] gewesen, einen Tag später trieb sie ein
ganz konkretes Klimaproblem auf die Straße. Zum „Marsch für den finnischen
Wald“ in Helsinki kamen nach Schätzungen der Polizei bis zu 2.000 Menschen,
weitere Waldmärsche gab es in den Städten Tampere, Jyväskylä, Oulu und
Raseborg.
Auf dem Blatt haben die KlimaaktivistInnen in Finnland zumindest weniger zu
beklagen als in vielen anderen Industrieländern: Die 5-Parteien-Regierung
der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Sanna Marin will das Land zur
„ersten fossilfreien Wohlfahrtsgesellschaft der Welt“ machen, wie sie 2019
in ihrem Programm festhielt. Im Mai [2][hat der Reichstag] in Helsinki
diese Verpflichtung mit großer Mehrheit in Form eines neuen Klimagesetzes
festgeschrieben. Darin steht: Bis 2035 will Finnland klimaneutral sein,
also höchstens noch so viel Treibhausgas ausstoßen, wie der Atmosphäre auch
wieder entzogen wird. Warum also die Proteste?
WissenschaftlerInnen warnen bereits, dass das Klimaziel grandios verfehlt
werden könnte – wegen des Zustands des finnischen Walds. Mit
„Fossilfreiheit“ haben die finnischen Pläne zur Klimaneutralität nämlich
nicht viel zu tun. Fast die Hälfte der nötigen Minderung von
Treibhausgas-Emissionen will das Land gar nicht dadurch erreichen, dass es
tatsächlich Treibhausgas-Emissionen mindert. Stattdessen will es sich die
ökologische Leistung seines Walds und seiner Böden gegenrechnen, denn
gesunde Ökosysteme binden Kohlenstoff. Auch Deutschland handhabt das seit
der Reform des Klimaschutzgesetzes im vergangenen Jahr so – allerdings
nicht in ganz so großem Stil.
Rund 50 Millionen Tonnen Kohlendioxid verursacht Finnland zurzeit im Jahr.
21 Millionen Tonnen davon sollen auch 2035 weiter ausgestoßen, aber von den
Wäldern aufgesogen werden. Bis 2040 will das Land dann sogar CO2-negativ
sein: Die Senken sollen mehr „schlucken“, als es Treibhausgas-Emissionen
gibt. Finnland ist bekanntlich ein waldreiches Land. Drei Viertel der
Landfläche südlich des Polarkreises sind bewaldet. Der Klimaplan steht und
fällt also mit dem Zustand dieser Flächen.
## Mehrfach übernutzt
Und der ist katastrophal: Im vergangenen Jahr trug die finnische Natur gar
nicht mehr zu einer Entlastung der Klimabilanz bei, sondern war sogar eine
zusätzliche Quelle von Kohlendioxid. Das haben kürzlich [3][Zahlen des
staatlichen Statistikamts] zum Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderung und
Forstwirtschaft gezeigt. Der trug unter dem Strich mit zusätzlichen 2,1
Millionen Tonnen Kohlendioxid zum Treibhausgasausstoß bei. Diese Umkehr der
natürlichen Klimaschutzwirkung geschieht, wenn zu viel abgeholzt wird, wenn
der Wald nicht mehr ausreichend nachwachsen kann. Neben dem gesteigerten
Holzeinschlag sind auch die fortgesetzte Trockenlegung von Mooren und die
Torfverbrennung ursächlich.
Was womöglich zusätzlich beunruhigend ist: Man hat diesmal zum ersten Mal
eine verbesserte Methode eingesetzt, die die Klimabilanz der Natur genauer
erfassen kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Werte in der
Vergangenheit schöngerechnet waren, die Entwicklung also schon
fortgeschritten ist.
ExpertInnen sind deshalb in Sorge: [4][Wenn schon in einem der
waldreichsten Länder Europas der Wald von einer CO2-Senke zu einer -Quelle
geworden ist, müsse das auch in anderen Ländern alarmieren], meint David
Erlandsson von der schwedischen Naturschutzvereinigung SSNC. Es gebe
eigentlich nur eine Konsequenz: Das Abholzungstempo müsse radikal
zurückgefahren werden.
## Kalkulation für die Katz
In den kommenden Monaten soll laut Tarja Tuomainen vom finnischen Institut
für Naturressourcen versucht werden, die Senken-Werte für die Vergangenheit
auf der Grundlage der neuen Methoden retrospektiv vergleichbar zu machen.
Das nun errechnete vorläufige Resultat sei jedenfalls „schlimmer als
erwartet“. „Wenn das Waldwachstum so zurückgeht wie bisher und die
Abholzung der Wälder im gleichen Tempo voranschreitet, müssen wir
grundlegend neu kalkulieren, wie wir die versprochenen Ziele erreichen
wollen.“
Der finnische Naturschutzverband SLL warnt bereits, dass Finnland seine
Klimaziele insgesamt verfehlen könne, „was volkswirtschaftlich sehr teuer
werden kann“. Der Verband macht eine „verfehlte Forstpolitik“, die nur auf
maximale Abholzung statt auf verantwortungsvolle Ressourcenverwaltung
ausgelegt sei, für die Entwicklung der letzten Jahre verantwortlich. Die
Regierung von Sanna Marin müsse Maßnahmen treffen, um die Entwaldung zu
begrenzen und die Freisetzung von Emissionen aus landwirtschaftlichen
Flächen zu vermindern. Falls das nicht gelinge, müssten zusätzliche
Klimagasreduktionen im Transport- oder Industriesektor erfolgen, was
wesentlich schwieriger und teurer werden könnte.
## Ist mehr Förderung die Lösung?
Dem [5][gerade verabschiedeten Klimagesetz] sei schon das Fundament
entzogen, warnt Umweltwissenschaftler Leif Schulman, Generaldirektor des
finnischen Umweltinstituts SYKE. Er bezeichnet die neuen Zahlen als
„Schock“ und fordert eine staatliche Regulierung des Abholzungstempos.
Dieses könne man nicht mehr wie bisher einfach dem Markt überlassen. Seit
2014 gibt es die bis dahin geltenden Bestimmungen, ab welchem Alter Bäume
abgeholzt werden dürfen, nicht mehr. Schulman schlägt nun eine Art
Klimagassenken-Förderung vor, um Waldbesitzer dafür zu entschädigen, die
Wälder länger wachsen zu lassen.
Die Politik versucht dagegen offenbar, auf Zeit zu spielen. Auch er nehme
die Zahlen durchaus ernst, reagierte Land- und Forstwirtschaftsminister
Antti Kurvinen von der bäuerlich-liberalen Zentrumspartei. Von
Markteingriffen halte er aber gar nichts, und man solle erst einmal „nichts
überstürzen“, so der Politiker. Abwarten helfe erst recht nicht, kritisiert
hingegen Hanna Aho, Nachhaltigkeitsspezialistin beim SLL, denn die aktuelle
Entwicklung gehe genau in die falsche Richtung: Mit 30 Prozent sei der
Anteil der Holzbrennstoffe an der gesamten finnischen Energieproduktion auf
Rekordhöhe gestiegen. Immer mehr Holz werde auch in der Bauwirtschaft
verarbeitet, und der Wald solle auch vermehrt fossile Treibstoffe ersetzen.
Auch Russlands Krieg gegen die Ukraine hinterlässt der Expertin zufolge
deutliche Spuren im finnischen Wald. Um Moskau zu sanktionieren, verzichtet
Finnland auf Holzimporte aus dem Nachbarland. Das dürfte das
Abholzungstempo in Finnland weiter steigern. Das scheinbar ambitionierte
Klimaziel steht also auf wackligen Füßen.
26 Sep 2022
## LINKS
[1] /taz-Podcast-klima-update/!5883437
[2] https://www.eduskunta.fi/EN/tiedotteet/Pages/Parliament-passed-a-New-Climat…
[3] https://www.stat.fi/sv/publikation/cktlcpwag38sg0c5561iqop0y
[4] /Neue-Forschungserkenntnisse/!5813114
[5] /Klimaneutralitaet-und-Kunst-in-Finnland/!5792850
## AUTOREN
Reinhard Wolff
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