# taz.de -- Die Wahrheit: Ganz im Jetzt und ganz real | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (154): Philosophen und | |
> ihre Tiere, eine Art von Amour fou vom Feinsten. | |
Bild: Wolfsweisheit: Glück, das gibt es so gar nicht auf Berechnung | |
In dem Bericht „Der Philosoph und der Wolf“ (2009) des US-Philosophen Mark | |
Rowlands geht es um einen Wolf: Brenin, den er zunächst in eine Hundeschule | |
schickte. Danach konnte er ihn überall mit hinnehmen. Im Geländewagen | |
reiste der Wolf mit Rowlands bis nach Las Vegas und New Orleans, sie gingen | |
gemeinsam auf Partys, und fast überall erwies sich der Wolf als | |
„‚Mädchenmagnet‘, so dass er sich ‚die übliche mühsame Anbaggerei‘… | |
konnte“, wie der Spiegel berichtet. An der Universität verteilte Rowlands | |
Zettel an seine Studenten: sie bräuchten keine Angst vor dem Wolf zu haben, | |
nur sollten sie ihm keine Beachtung schenken und Lebensmittel nicht offen | |
herumliegen lassen. | |
„Gesetzt den Fall“, schreibt die US-Ökophilosophin Donna Haraway (in: „W… | |
Species Meet“ 2008), „eine Wildkatze hinterläßt Junge, die von einem | |
Haushalt, bestehend aus überqualifizierten, wissenschaftlich ausgebildeten | |
Kriegsgegnern mittleren Alters aufgenommen werden: Werden die Tiere | |
garantiert glücklich werden“ – obwohl doch die Wildheit unsere ganze | |
Hoffnung bleibt? | |
Auch Rowlands fragt sich, ob ein Wolf nur in der Wildnis glücklich werden | |
kann. Hatte Haraway schon einen bloß noch schwachen Begriff von fixierten | |
Bedürfnissen, greift Rowlands nun auf die Sartresche Unterscheidung von | |
Existenz und Essenz zurück und kommt zu dem Schluss: Man „glaubt“, dass bei | |
diesem Wolf – ebenso wie beim Hund – die Existenz der Essenz vorausgeht, | |
dass das Tier mithin auch in der Menschenwelt glücklich werden kann. | |
## Symbiotische Beziehung | |
Da der Wolf Brenin und der Philosoph Rowlands elf Jahre lang unzertrennlich | |
waren, entwickelten sie mit der Zeit eine symbiotische Beziehung. Rowlands | |
kommt auf Thomas Hobbes zu sprechen, der einst, um die englischen | |
Bürgerkriege zu beenden, von der notwendigen Umwandlung der Wildnis in | |
Zivilisation sprach. Dazu dachte er sich einen Nullpunkt aus, an dem die | |
Bürger einen „Gesellschaftsvertrag“ mit dem Souverän eingehen, dem sie das | |
Gewaltmonopol übertragen. Und dieser muss sie dafür schützen. | |
Einen solchen Nullpunkt gibt es nicht, meint Rowlands, denn „eine Frage, | |
die sich Hobbes anscheinend nie stellte, ist folgende: „Wie können | |
diejenigen, die wirklich rot an Zähnen und Klauen sind, an den | |
Verhandlungstisch geholt werden?“ Das wird nie geschehen, denn „Verträge | |
können nur zwischen zivilisierten Menschen geschlossen werden. Also kann | |
der Vertrag nicht die Zivilisation bewirkt haben.“ Am Anfang standen immer | |
Gewalt und Machtkampf. | |
Obwohl oder weil sein Wolf ihn vieles lehrte und ihn gewissermaßen zu einem | |
besseren Menschen machte, ist Rowlands mit der Zeit zu einem Misanthropen | |
geworden. Das hindert ihn jedoch nicht, weiter seine „Grundidee“ zu | |
verfolgen, „dass man einen Weg finden müsse, die Tiere in den | |
Gesellschaftsvertrag mit einzubeziehen“. Andererseits ist „der Vertrag eine | |
Erfindung von Primaten für Primaten“. Randvoll voller | |
Gewinn-und-Verlust-Kalkulationen, falschen Bündnissen und | |
Investitionsüberlegungen. „Warum habe ich Brenin geliebt?“, fragt er sich | |
noch einmal: weil „dieser Wolf weiß, dass Glück nicht in der Berechnung zu | |
finden ist“. | |
Als „Konsequenzialist“ beschloss Rowlands irgendwann einmal, keine Tiere | |
mehr zu essen, die zum Zwecke des Verzehrs gezüchtet und aufgezogen werden. | |
Diesen Schritt mochte er seinem Wolf natürlich nicht zumuten. Am Ende | |
schlossen die beiden einen Kompromiss: Er wurde Vegetarier und Brenin | |
Pescetarier. „Allmählich zogen wir uns aus der Welt der Menschen zurück“, | |
schreibt Rowlands. Er wurde immer sonderbarer: „Ein moralistischer | |
Vegetarier, das seltsamste aller Geschöpfe, das dazu verurteilt war, den | |
Rest seiner kümmerlichen Existenz ohne die geschmacklichen Wonnen von | |
Tierfleisch zu durchleben.“ | |
## Mit lodernden Augen | |
Wenn Brenin wieder mal ein Kaninchen gejagt hatte, fragte Rowlands sich, | |
wie wichtig überhaupt die Jagd für seinen Wolf war. „Vielleicht war er nur | |
glücklich, wenn er Kaninchen fing? Hoffentlich nicht, denn das gelang ihm | |
nur selten. Aber sein Verhalten ließ auf das Gegenteil schließen. Ob er | |
Erfolg hatte oder nicht – danach rannte er immer mit lodernden Augen auf | |
mich zu und sprang aufgeregt von allen Seiten an mir hoch. Das, dessen bin | |
ich mir ziemlich sicher, war ein glücklicher Wolf.“ Rowlands meint, im | |
Gegensatz zu Hunden und Wölfen sei uns das „Jetzt“ abhanden gekommen. Bei | |
ihnen sei „jeder Moment ihres Lebens in sich vollständig“, wir schauen | |
dagegen „durch Momente hindurch“, deswegen sind sie für uns „nie ganz | |
real“. | |
Für den Oxford-Philosophen John Gray lehren uns Hauskatzen, wie man geliebt | |
und glücklich wird. In seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (2022) | |
zitiert er etliche Katzen liebende Schriftstellerinnen und Philosophen von | |
den antiken bis zu Montaigne, Spinoza, Pascal, Schopenhauer und Nietzsche, | |
und dazu einige namhafte Katzenforscherinnen. Das verführt ihn zu solch | |
abstrakten Gedanken wie „Katzen verwechseln ihre Natur nicht“. Deren | |
Unfähigkeit zu „abstraktem Denken“ hält er für „ein Zeichen von geisti… | |
Freiheit“, ihre „Ethik“ sei „eine Art selbstloser Egoismus“. | |
Gray geht es nicht um die „Existenz“ einer Katze, sondern anders als | |
Rowlands um deren „Essenz“, um die Katzenheit quasi. Sein abstraktes Denken | |
hindert den 75-Jährigen, eine Katze zu verstehen und sie ihn – etwa so wie | |
Elina. Die kleine Tochter des zypriotischen Dichters Panos Ioannides meint | |
(in: „Eine Familie mit Tieren“, erschienen 2016): „Wenn du gut zu ihr bis… | |
wenn du mit ihr sprichst und in deiner Phantasie dazu das Bild zeichnest | |
von dem, was du sagst, und es über deine Gedanken in ihren Kopf hinein | |
sendest, dann sieht sie das Bild und versteht, sie paßt das Bild dem Wort | |
an.“ Das hat auch bereits der russische Tierdresseur Wladimir Durow dem | |
Neurologen Wladimir Bechterew bewiesen, der darüber 1924 in der Zeitschrift | |
für Psychologie berichtete. | |
Der französische Philosoph Gaspard Koenig hat mit seiner sechsjährigen | |
Stute namens Destinata den Weg nachverfolgt, den einst Michel de Montaigne | |
mit seinem Pferd von Bordeaux über Bayern bis nach Rom nahm. Unterwegs | |
übernachtete Koenig auf Reiterhöfen oder bei Öko-Bauern. Er ritt nicht | |
durchweg, sondern ging oft neben seinem Pferd her, um es zu schonen. | |
In seinem Bericht „Mit Montaigne auf Reisen“ (2022) zitiert er natürlich | |
oft und gerne Montaigne, aber vor allem schreibt er über „Desti“, ihr | |
Verhalten, ihre Laune, ihre Hufeisen- und Rückenprobleme sowie über die | |
Schwierigkeiten ihrer Reise durch heute dicht besiedeltes Land voller | |
Zäune, Straßen und Menschen, die partout ein Selfie mit ihm und dem Pferd | |
machen wollten. | |
„Auf meiner Karte im Maßstab 1:25.000 sind wir kaum vier Zentimeter | |
vorangekommen“, klagt er. Koenig macht den Fehler, sich ein Ziel zu setzen | |
– er muss Strecke machen. Gleichzeitig fragt er sich angesichts des | |
„Ungestüms“ seiner Stute: „Wie kann ich Desti die Vorstellung | |
kommunizieren, dass die Reise lang sein wird“ – und sie „ihre Kräfte | |
einteilen muss?“ Schließlich passen die beiden sich einander an, und für | |
den Rückweg nehmen sie einen Lkw. | |
19 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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