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# taz.de -- Die Wahrheit: Zahnlose Tänzer auf dem Karussell
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (151): Seepferdchen sind
> die wohl allerseltsamsten Meeresmitbewohner.
Bild: Dieses schwangere, männliche Seepferdchen will in Rio de Janeiro eine Fa…
„Als Gott die Seepferdchen erschuf, war er wahrscheinlich besoffen“,
vermutet der Meeresbiologe Jorge Gomezjurado. Bei ihnen, die zu den Fischen
zählen, werden die Männchen schwanger. Es sind „launische Faulpelze,
schwerhörige Vielfraße, Meister der Tarnung, romantisch Liebende und
anmutige Tänzer“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Till Hein in seinem
Seepferdchenbuch: „Crazy Horse“ (2021).
Wahrscheinlich gehört der Autor zu den vielen Aquariumsbesuchern, bei denen
die senkrecht schwimmenden Seepferdchen besonders beliebt sind. Schon als
1853 in London das erste Großaquarium eröffnete, gehörten sie zu den
Attraktionen, der Daily Telegraph bezeichnete sie als die „Helden des
Aquariums“.
Seepferdchen werden stark verfolgt, nicht nur, weil sie trotz ihrer guten
Tarnung zwischen Algen und Seegras eine leichte, weil langsame Beute für
Raubfische sind, sondern vor allem wegen ihrer angeblichen Heilkraft. Die
Tiere werden getrocknet und pulverisiert in der chinesischen Medizin für
unzählige Rezepturen verwendet.
Rund 20 Millionen Exemplare kommen jährlich auf die Märkte. Die Mehrzahl
stammt aus Indien, Vietnam, Indonesien und den Philippinen. Allein China,
wo man sie auch gern gegrillt isst, importiert pro Jahr rund 45 Tonnen
Seepferdchen, von denen einige Arten inzwischen vom Aussterben bedroht
sind.
## Mit der Krone auf dem Kopf
Es gibt Seepferdchen, die kaum fingernagelgroß werden, und andere, die bis
zu 35 Zentimeter lang werden. Viele haben eine Krone auf dem Kopf und
können ihre Farben wechseln. Till Hein interviewte eine
Seepferdchenzüchterin in Visselhövede: „Seit mehr als zehn Jahren verkauft
Elena Theys nun Qualitätsseepferdchen.“ Die meisten Kunden wollten Pärchen.
Dummerweise werden jedoch bei der Züchterin von ihren Riesenseepferdchen
mehr Männchen als Weibchen geboren – bei einem Wurf waren es 30 Weibchen
und 270 Männchen.
Einige Seepferdchen bleiben lebenslang zusammen, was ihnen die mühsame
Suche nach einem Paarungspartner erspart, so Hein: „Zwergseepferdchen
erreichen gerade mal eine Höchstgeschwindigkeit von 0,054
Stundenkilometer.“ Bei Elena Theys’ brasilianischen Riesenseepferdchen
gebaren die Männchen bis zu 1.472 Jungtiere, einige Hundert konnte sie
großziehen. Bei den Pazifik-Seepferdchen kommen während nur einer Geburt
„bis zu 2.000 Seefohlen zur Welt, bei den Zwergseepferdchen hingegen ‚nur‘
etwa zehn.“ Theys sagt, sie habe bislang „keinen Tag ohne Seepferdchen
verbracht“.
Seepferdchen sind Raubfische, und weil sie, da ohne Zähne und Magen, ihre
unzerkaute Beute schlecht verdauen, lauern sie ständig auf
Kleinstlebewesen, die sie mit ihrer Röhrenschnauze einsaugen – schneller,
so weiß Till Hein, „als das menschliche Auge gucken kann“.
## Meister der Umklammerung
Die Seepferdchenzüchterin ist auch eine Seepferdchenschützerin und
kritisiert das Artenschutzabkommen, weil es erlaubt, „dass jeder Reisende
weltweit vier tote Seepferdchen im Gepäck mitführen darf“. 2008 ging einem
Fischer ein Nordsee-Seepferdchen ins Netz, das eine Pflanze aus grünem
Plastik umklammerte. Es kam mitsamt seiner Pflanze zu Elena Thys. Was das
Seepferdchen einmal umklammert hat, lässt es nicht leicht wieder los.
„Festhalten ist das, was diese Tiere am besten können“, meint der
Meeresbiologe Ralf Schneider vom Geomar Helmholtz-Zentrum in Kiel, den Till
Hein interviewte.
Zu Wort kommt daneben auch der Biologieprofessor Axel Meyer von der
Universität Konstanz, der mithalf, das Erbgut des
Tigerschwanz-Seepferdchens zu entschlüsseln. Sie zählten 23.458 Gene und
wunderten sich: So viele?! Von der Seepferdchenexpertin Sara Lourie aus
Montreal erfuhr Hein, dass nicht alle 30 bis 80 Seepferdchenarten die an
ihnen vorbeitreibenden Beutetierchen einsaugen: „Dreipunkt-Seepferdchen zum
Beispiel spritzen einen Wasserstrahl ins Bodensediment, um darin verborgene
Kleinstlebewesen aufzuwirbeln und zu verschlingen.“
Die Tiefseetaucherin Helen Scales aus Cambridge interessierte sich vor
allem für die „Tarnkünste“ der Seepferdchen: Die Bargibangt-Seepferdchen
imitieren nicht nur die Farbe, sondern auch die Form „ihrer“ Fächerkoralle,
an der sie klammern. Zu den seepferdchenähnlichen Nadelpferdchen zählen die
Fetzenfische, die sich fast perfekt in schwimmende Algen verwandelt haben.
## Balzspiele wie Trommelwirbel
Zu meiner Freude erwähnt Till Hein auch den DDR-Direktor des
Meeresaquariums in Stralsund, Karl-Heinz Tschiesche, der sich auf die
akustische Kommunikation von Meerestieren konzentriert hat, wie er in
seinem Buch „Seepferdchen, Kugelfisch und Krake“ (2005) berichtet. Über
Erstere fand er heraus: „Während ihrer Balzspiele erzeugen sie Laute, die
an Trommelwirbel erinnern.“ Es gibt aber auch welche, die wie Grillen
zirpen. Mit gemeinsamen „Balzklicks“ synchronisieren Männchen und Weibchen
ihr Balzverhalten. Dazu gehört auch das tägliche Tanzritual, das einem
Vorspiel gleicht. Der Wiener Biologieprofessor Friedrich Ladich meint: „Nur
wenn Männchen und Weibchen da sehr gut zusammenarbeiten, klappt es mit der
Übergabe der Eier durch das Weibchen in die Bauchtasche des Männchens und
der Befruchtung.“
Was sich kompliziert anhört, scheint die Seepferdchenpaare jedoch nicht zu
beunruhigen: „Sie plaudern, flirten, tanzen – oder haben Sex“, faßt Till
Hein seine Recherche zusammen. Vielen Forschern ist hier vor allem die
Monogamie der Seepferdchen ein Rätsel. Sie gilt jedoch nicht für alle
Arten. Da sind beispielsweise die 2001 von einem australischen Taucher
entdeckten Denise-Zwergseepferdchen, bei denen das Weibchen „gleichsam
ständig auf zwei Hochzeiten tanzt“, indem es sich mit zwei Männchen liiert.
Oder die vor Neuseeland dümpelnden Dickbauchseepferdchen, die jeder „festen
Partnerschaft“ abhold sind: Ist die Auswahl groß genug, verpaaren sich
täglich „bis zu 25 Partnerinnen und Partner“. Und dann noch die
Kurzkopf-Seepferdchen, bei denen die Männchen „regelrechte Boxturniere“
veranstalten, „um Weibchen zu beeindrucken“.
## Dominanzfreies Liebesspiel
Der Berliner Biologe Cord Riechelmann wird von Till Hein wegen seiner
romantischen Sicht auf das Liebesleben der Seepferdchen zitiert. In einer
Rezension des berühmten Seepferdchenfilms aus dem Jahr 1934 von Jean
Painlevé schrieb Riechelmann, „dass das Liebesspiel der Seepferdchen ohne
jede Dominanz des einen Geschlechts über das andere auskommt“. So sei es
gleichgültig, ob Männchen oder Weibchen das tagelang dauernde
„Karussellschwimmen“ beginne, „in dessen Verlauf die beiden sich, immer
wieder umeinander kreisend, so weit an die Wasseroberfläche bewegen, bis
die Krönchen aus dem Wasser ragen“.
Obwohl es an Seepferdchenforschung so gar nicht mangelt, sind noch viele
Fragen offen – etwa wie sich die Art der Paradoxen Seepferdchen im Wasser
fortbewegt. „Denn ihnen“, stellt Till Hein fest, „fehlt die Rückenflosse…
das Organ, das bei allen anderen Seepferdchen für den Antrieb beim
Schwimmen sorgt.“
8 Aug 2022
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Die Wahrheit
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