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# taz.de -- Diversität und diverse Süchte in Venedig: Glamour, Fleisch und Op…
> Lidokino 5: Liebevolle Menschenfresser, Fremdheit in der Familie und Nan
> Goldins erfolgreicher Kunstaktivismus bei den Filmfestspielen.
Bild: Nan Goldin in „All the Beauty and the Bloodshed“
Eines der Anzeichen, dass die Pandemie auf dem Lido nicht mehr den
Festivalalltag beherrscht, ist der rote Teppich. Für die 79. Ausgabe wurde
die unansehnliche graue Trennwand entfernt, die in den vergangenen zwei
Jahren dicht gedrängte Fans von den aufmarschierenden Stars abhalten
sollte. Man musste stattdessen mit dem großen Display am Rand des farbigen
Geh-Abschnitts vorliebnehmen, um zu sehen, wer sich gerade den Kameras
anbot.
Jetzt ist der Blick wieder frei und die Menschentrauben bilden sich wie eh
und je. Zur Premiere von Luca Gudagninos Wettbewerbsfilm „Bones and All“
hatte sich Timothée Chalamet eingefunden und wiederholt für Schreie
zahlreicher hoher Stimmen gesorgt, die weit über den Lido zu hören waren.
Am dunklen Wuschelkopf gut zu erkennen, gab der
US-amerikanisch-französische Schauspieler sogar bereitwillig Autogramme an
alle, die nahe genug an die trennende Brüstung herankamen.
Ob alle der euphorisierten Anwesenden in gleicher Form von dem Film, in dem
er zu sehen ist, überwältigt gewesen wären, ist eine andere Frage. Chalamet
spielt in „Bones and All“ an der Seite von Taylor Russell einen juvenilen
Kannibalen. Eine junge Frau, Maren (Russell), die gleichermaßen veranlagt
ist, begegnet auf der Suche nach ihrer Mutter dem abgeklärten Lee
(Chalamet), man findet Gefallen aneinander und versucht fortan, die
komplizierte Nahrungsfrage gemeinsam zu klären.
Der Italiener Guadagnino bietet dabei nicht allein präzise gesetzte
Schockeffekte, sondern lässt auch großzügig Raum für Romantik. Oder eher
Kitsch. Jedenfalls erzählt er eine Geschichte, in der Menschenfresserei
nicht viel mehr ist als eine Eigenheit, die die Protagonisten von der
Mehrheitsgesellschaft absondert.
Mit einer guten Dosis Ironie wird der Schrecken abgemildert, was damit zu
tun haben könnte, dass als Vorlage ein Jugendroman der Autorin Camille
DeAngelis diente. Richtig überzeugen kann die Mischung nicht. Und auch die
Anwesenheit des kunstfertigen Mimen Mark Rylance in einer Nebenrolle als
erfahrener Allesfresser hilft nicht restlos über die Schwächen hinweg.
## Plädoyer für Diversität
Ein weniger effektgestütztes, dafür umso mehr auf die Körper seiner
Darsteller fixiertes Porträt einer Außenseiterin ist Andrea Pallaoros
„Monica“, der Abschluss seiner Trilogie über Frauen, dessen zweiter Teil
„Hannah“ mit Charlotte Rampling 2017 ebenfalls in Venedig lief. In „Monic…
wird die Hauptfigur von der transgeschlechtlichen Schauspielerin Trace
Lysette gespielt.
Gleich zu Beginn ist diese Monica in einem Solarium zu sehen, wobei ihre
breiten Schultern auffallen. Abgesehen davon, erfährt man zunächst sehr
wenig über sie. Sie macht sich nach einem Telefonanruf einer Person, die
sie anscheinend nicht kennt, zu einer längeren Autofahrt auf. Dass sie zu
ihrer Familie fährt und dass sie eine Weile nicht dort gewesen ist, deutet
Pallaoro flüchtig an.
Er bleibt ansonsten die meiste Zeit mit der Kamera dicht bei Monicas
Gesicht, bei ihren Händen, auch die anderen Darsteller zeigt er oft aus
nächster Nähe. Warum Monica ihrer eigenen Familie einst fremd geworden ist,
kann man lediglich erahnen, warum sie es jetzt ist, wird dafür sehr bald
klar. Pallaoro hält mit dieser kammerspielartigen Reduziertheit ein
eindringliches Plädoyer für Diversität, das in seiner Lakonik mehr berührt
als der instrumentalisierte Horror bei Guadagnino.
Noch mehr berührt die US-amerikanische Dokumentarfilm Laura Poitras mit
ihrem Wettbewerbsbeitrag „All the Beauty and the Bloodshed“, in dem sie
einerseits die Künstlerin Nan Goldin ihre eigene Kunst kommentieren lässt
und andererseits [1][ihre Protestaktionen gegen die Milliardärsfamilie
Sackler] begleitet. Letztere sind, so ihr Vorwurf, durch die aggressive
Vermarktung ihres suchterzeugenden Schmerzmittels Oxycon für den Tod einer
halben Million US-Amerikaner verantwortlich.
Goldins Fotos sind als Diashows zu sehen, so wie sie ursprünglich von ihr
präsentiert wurden, dazu spricht sie aus dem Off, erzählt von ihren
eigenen Erfahrungen mit Sucht oder von der psychiatrischen Fehlbehandlung
ihrer Schwester. Dazwischen sind Goldins Aktionen zu sehen, in denen sie
zum Beispiel dagegen protestiert, dass eine Abteilung im Metropolitan
Museum of Art nach der Familie Sackler benannt ist.
## Wut gegen das Haus Sackler
Poitras schlägt so eine Brücke vom frühen Suizid der Schwester Nan Goldins
hin zu ihrer Wut gegen das Haus Sackler, die so stimmig wie bewegend ist.
Den Erfolg, dass viele namhafte Museen inzwischen auf das Geld der Sacklers
verzichten und einige wie das MET den Namen entfernt haben, gönnt man ihr.
5 Sep 2022
## LINKS
[1] /Fotografin-ueber-US-Opioidkrise/!5605942
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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