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# taz.de -- David-Bowie-Doku „Moonage Daydream“: Ein Sexgott für alle
> Der Dokumentarfilm „Moonage Daydream“ ist ein rasendes psychedelisches
> Kaleidoskop über David Bowie. Er ist als überdimensionaler Künstler zu
> erleben.
Bild: David Bowie im grenzenlosen Farbrausch in „Moonage Daydream“
David Bowie sprengt jeden Rahmen. Die 300 Quadratmeter Leinwand eines
IMAX-Kinos könnte ihm jedoch gerade so passen. Darauf hofft der
US-amerikanische Dokumentarregisseur Brett Morgen, der sich – nach seinem
Kurt Cobain-Dokumentarfilm „Montage of Heck“ – nun zum zweiten Mal einer
Musikikone widmet.
Denn [1][Bowie, der 2016 kurz nach seinem 69. Geburtstag starb], hat ein so
außerordentliches wie interdisziplinäres Werk hinterlassen – neben seiner
Musik und den Texten spielte er in Filmen und am Broadway, er malte,
tanzte, schwelgte in vestimentären Fantasien und experimentierte mit
Genderfluidität. Passend dazu ist Morgens Ansatz kein chronologischer,
sondern ein intuitiver: Sein 134 Minuten langer, versatiler, fast
ausschließlich von Bowie-O-Tönen kommentierter „Moonage Daydream“ arbeitet
mit Themen-Clustern.
Er beginnt mit einer Collage zu Bowies Bedeutung als androgyn-erotisches
„Object of desire“ – begehrt von Jungen und Mädchen, Männern und Frauen…
allem dazwischen, und auch all diese Bezeichnungen in sich selbst
vereinend.
Morgen montiert Songs wie „All the Young Dudes“, „Hallo Spaceboy“ und �…
on Mars“ zu ineinander verschachtelten Soundclouds, lässt
Talkshowausschnitte (der Musiker als entspannter Gesprächspartner mit
unzähligen Farben am ranken Leib, in glitzernden Plateau-High-Heels und mit
bezauberndem, schiefzahnigem Lächeln) auf Nahaufnahmen entrückter
Fangesichter treffen und sprenkelt die Riesenleinwand mit abstrakten
Farbexplosionen.
## Millionen Bild- und Tondokumente
Der Regisseur, der Zugang zu sämtlichem von den Bowie-Erben verwalteten
Material hatte und sich fünf ganze Jahre und einen überstandenen
Herzinfarkt lang durch die Millionen Bild- und Tondokumente fraß, hat dafür
unter anderem die Originalbänder von D. A. Pennebakers 70er-Konzertfilm
„Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ neu zusammengesetzt.
Er zeigt Kamerablicke auf Bowies Schritt, lässt nackte Schenkel über
Overknees blitzen, knabenhafte Hüften schwingen und verdeutlicht so die
orgiastische Qualität und erstaunliche Genderdiversität dieser frühen
Phase: Bowie wirkt wie eine spirituelle Ganzheit, ein Sexgott für alle. Der
bisexuelle Musiker bescherte einer gesamten Generation ein Coming-out.
Ein weiteres Cluster ist Bowies Kunstwille und seine unbändige Kreativität
– Morgen mischt dazu Bilder des frühen und späten Bowie, der besessen malt,
schreibt, tanzt und ebenso besessen die Metaebenen seiner Kunst bedenkt:
„Künstler sind Erfindungen“, sagt Bowie, sein – der Stimme nach – ält…
Ich erzählt vom Ansatz, keine Musik für die Massen machen zu wollen, und
von der Überraschung, genau jene Massen damit zu überzeugen. Bowies
akzentuierte Worte schildern den Drang, Kunst zu produzieren, der als Junge
begann.
Die Vergangenheit des Briten blitzt nur in wenigen Bildern auf, sie deuten
auf knapp bemessene Liebe im Elternhaus hin, auf ein problematisches
Mutter-Sohn-Verhältnis und eine starke kulturelle Prägung durch einen
Halbbruder mit später ausbrechender Schizophrenie – eine fast klassische
Kreativ-Biografie, unterschnitten mit Originalaufnahmen anonymer
Arbeiter:innen aus dem tristen Nachkriegs-Brixton der 50er.
## Ton und Musik komplett neu denken
[2][Bowies Berlin-Aufenthalt] ist ebenfalls eines der ineinander driftenden
„Kapitel“ gewidmet – hier begann der Künstler nach Eigenaussage, Ton und
Musik komplett neu zu denken, bekanntlich mit großem Erfolg, und einigen
deutschen Textzeilen im legendären „Heroes“.
Langsam schält sich aus Morgans Cluster-Trip schließlich doch so etwas wie
eine dramaturgische Entwicklung heraus, die Bowies psychischen Zuständen
folgt: „I want to live“, hört man ihn in seinem langen und verzweifelten
Song „Cygnet Committee“ (1969) singen, Ausschnitte aus „Der Mann, der vom
Himmel fiel“ zeigen ihn als Alien, Clips aus „Merry Christmas, Mr.
Lawrence“ als Kriegsgefangenen.
Der folgende, grenzwertig ohrenbetäubende Teil des Films thematisiert
Bowies Liebe zum Chaos; in einem „Let’s Dance“-Abschnitt ehrt der Regisse…
Bowies Tanzkünste. Aufbauend auf frühe Lehren aus seiner Theaterzeit im
Pierrot-Look schwingt der blonde, grau- oder rothaarige, aber immer
energetische Mann über Bühnen und durch Videos und verdreht den grazilen
Körper im Takt.
## Auf Bestätigung durch Fans verzichten
Mit der Begegnung Bowies mit dessen zweiter Ehefrau Iman lässt Morgen etwas
Ruhe einfallen in den rasenden Mix und zeigt Bowie als jemanden, der
angekommen ist, eine Liebe gefunden hat, die ihn hält – und für die er gar
bereit ist, das exaltierte, egozentrierte Künstlerleben zurückzufahren und
zugunsten der Beziehung zu einem einzigen Menschen auf Bestätigung durch
Fans zu verzichten. [3][Sein „Black Star“-Spätwerk ist von Gedanken an
Vergänglichkeit und Tod geprägt], dass diese Impulse auch spät im Film
auftauchen, verstärkt die Anmutung der Chronologie.
Dass Morgens auf jeder Ebene überdimensionierter Cocktail aus Bowies frühen
und späten Phasen sowie aus Bild-, Ton- und eigens kreierten
Grafikelementen zusammengerührt wurde und dass immer wieder Zitate aus
wichtigen Werken der Kulturgeschichte (Buñuel, Méliès, Keaton, Murnau etc.
etc.) diese eklektische Melange begleiten, ist folgerichtig: „Moonage
Daydream“ beschreibt einen überdimensionalen Künstler.
Er habe keinen Film über Bowie gemacht, sondern einen, der versuche, dessen
Spirit einzufangen, sagte Morgen in einem Interview – durch die Begegnung
mit Bowies Kunst lerne man vor allem etwas über sich selbst. Ein
konventionelles Biografieformat würde diesem Mann also schlichtweg nicht
gerecht. Und für wen sollte das auch gut sein: Die vielen langjährigen
Bowie-Fans kennen die Fakten, diejenigen, die das sinnliche Erlebnis als
neue Fans gewinnen will, muss man eh auf sinnlicher Ebene ansprechen.
## Legitime Heldenverehrung oder Vermessenheit?
Dennoch bleiben am Ende des betörenden IMAX-Rauschs, dessen schrille
Soundqualität gegenüber der Bildqualität stark abfällt, ein paar Zweifel:
Ist es künstlerische Freiheit, ist es legitime Heldenverehrung oder streift
es schon Vermessenheit, wenn man Bowies in unterschiedlichen Lebensphasen
und aus unterschiedlichen Motivationen entstandene Kunst nach eigenem
Kunstverständnis neu zusammensetzt – und dabei unverhohlen von der
ursprünglichen, originären Kraft der Werke profitiert?
Ist es sinnvoll, jegliche Kritik an Bowie – postkoloniale
Interpretationsmöglichkeiten im Text von „China Girl“, die als roter Faden
eingesetzten Bilder Bowies in Safari-Anzug, der durch eine „exotische“
Umgebung streift – auszublenden? Und wie war der Mann überhaupt – deutet
der von Morgen durch entsprechende, weitgehend humorfreie O-Töne
unterstrichene Hang zur Isolation auf den klassischen „einsamen Künstler“
hin oder ließe sich sein Charisma, seine künstlerische Zielstrebigkeit,
gepaart mit der Aussage, nicht einmal die Liebe dürfe ihm in die Quere
kommen, auch als Narzissmus lesen?
Hatte, brauchte er tatsächlich keine Freunde? Bowie hat einen Sohn mit
seiner ersten Ehefrau Angie und eine Tochter mit Iman, die Existenz seiner
Kinder wird im Film nicht erwähnt – vielleicht hatte die Vaterschaft
keinerlei Einfluss auf Bowies Kreativität. Aber wie sehr ist das
interpretiert?
Auf der anderen Seite: Journalistische Ansprüche an einen herrlich freien,
unverschämt überbordenden und offen affirmativen Film zu stellen, ist
angesichts der Masse an Eindrücken vielleicht etwas kleinkariert. Und
kleinkariert – das war David Bowie nun wirklich nicht.
14 Sep 2022
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## AUTOREN
Jenni Zylka
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