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# taz.de -- Soziale Gerechtigkeit: Nemesis, an die Arbeit bitte
> Oft fällt bei Fragen der Umverteilung der Begriff „Neiddebatte“. Doch
> dieser ist eine Beleidigung des politischen Verstands.
Bild: Die meisten superteuren Wagen auf den Straßen sind Dienstwagen
Wenige Begriffe bringen mich so zuverlässig auf die Palme wie die
„Neiddebatte“. Schon beim Schreiben des Wortes werde ich sauer, merke ich
gerade.
Mit „Neiddebatte“ versuchen FDP-Vizefraktionschefs und ihre
Seelenverwandten seit jeher, Umverteilungsdiskussionen abzuwürgen – und
zwar immer dann, wenn sie besonders interessant, also konkret werden.
Zuletzt ging es um den Anspruch von Zahnärztinnen, höheren Angestellten und
Unternehmensberatern, sich das Fahren großer Autos von der Steuerzahlerin
bezuschussen zu lassen.
Die Freunde des Dienstwagenprivilegs behaupteten nun, schon im Begriff
„Privileg“ eine Neiddebatte zu erkennen, da es sich ja um ein Recht und
keine Bevorzugung handle. Doch ist ja eben genau das der Skandal, dass hier
ein Gesetz unbegründbare Vorrechte schafft. Oder mag jemand begründen, was
die unersetzliche Deutsche Umwelthilfe ausgerechnet hat? Je nach Porsche,
Audi- oder Mercedes-Modell zahlt demnach der Staat [1][bis zu 154.000 Euro]
dazu. Die meisten superteuren Wagen, die Sie sehen, sind Dienstwagen. Die
Fördersumme wächst mit dem Maß, in dem die Karre Verachtung für Mitmensch
und Planet bezeugt.
## Eine Beleidigung des politischen Verstands
Das gehässig hingeworfene „Das ist doch eine Neiddebatte“ aber ist kein
Argument, sondern eine Beleidigung des politischen Verstands auf gleich
mehreren Ebenen. Denn behauptet wird, es gehe nicht um Gerechtigkeit,
sondern um ein Gefühl, genauer: um ein soziales Gefühl, das historisch und
kulturell hinlänglich diskreditiert ist, Stichwort Todsünde. Hervorgerufen
werden soll mit dem Neidvorwurf die errötete Schwester des Neids, die
Scham: Stell dich in die Ecke, und zwar mit dem Gesicht zur Wand, dass du
es wagst, anderer Leute Privileg infrage zu stellen.
Nach diesem Muster lässt sich natürlich jede Form der Ungleichbehandlung
neu beschreiben. So führen am Ende auch die Mädchen in Afghanistan eine
Neiddebatte gegen die Taliban, und haben die Sklaven eine Neiddebatte gegen
die Plantagenbesitzer geführt.
Das dürfte auch der Punkt sein, der mich bei diesem Begriff jedes Mal so
aufregt: Es wird nicht nur im konkreten Einzelfall, sondern generell damit
nahegelegt, es gebe in der Politik keine Gerechtigkeitsdimension, ja,
Gerechtigkeit habe gar nicht ihr Gegenstand zu sein. Ein paar Tausend Jahre
weltweites Nachdenken über das friedliche und gedeihliche Zusammenleben von
Menschen wird mal eben weggewischt, und dies in eine übergriffige,
unverschämte Unterstellung verkleidet: Du bist ja nur neidisch.
Dabei will ich die Autos, um die es geht, nicht nur gar nicht haben. Ich
sähe sie sogar viel lieber in ihre Grundbestandteile zerlegt und zu
Kaffeemaschinen, Schulranzen und Fensterrahmen weiterverarbeitet.
Da wir aber gerade bei mehrere Tausend Jahre alten Gedanken waren:
[2][Schön ist es nachzulesen], dass Aristoteles uns schon im vierten
Jahrhundert vor Christi Geburt den Gefallen tat, den verpönten Neid
differenziert zu betrachten. Er befand demnach, Neid in der Form des
enttäuschten Gerechtigkeitssinns könne man besser „gerechten Unwillen“
nennen: „Nemesis“. Diese nun war nicht irgendeine dahergelaufene
Rachegöttin, sondern vor allem dafür zuständig, menschliche
Selbstüberschätzung zu bestrafen. Wo auch immer sie gerade ist, Nemesis
möge bitte ihren Job machen.
3 Sep 2022
## LINKS
[1] /Massive-Subventionen-in-Deutschland/!5871777
[2] https://www.hoheluft-magazin.de/2019/03/serie-teil-2-neid-und-scham-die-wei…
## AUTOREN
Ulrike Winkelmann
## TAGS
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Dienstwagen
FDP
Umverteilung
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Gas
G7-Gipfel in Elmau
Intellektuelle
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