| # taz.de -- Ausstellung über die Facetten von Sand: Klänge aus dem Sand des M… | |
| > Von der Ausbeutung Südafrikas bis zum Mars spannt eine Ausstellung im | |
| > Hamburger Kunsthaus den Bogen. Ihr Thema: Sand, Sand und wieder Sand. | |
| Bild: Garth Erasmus’ Sandbilder erinnern an koloniale Schaudepots | |
| Er nimmt tatsächlich den Bogen in den Mund. Tippt dann mit einem kleinen | |
| Stab auf die zugehörige Saite und erzeugt einen Oberton, fein wie ein | |
| Windhauch. Garth Erasmus weiß, wie man den Mundbogen spielt. Das Instrument | |
| entstand einst aus dem Jagdbogen seiner Vorfahren, der indigenen | |
| südafrikanischen Khoi-San. | |
| Garth Erasmus, derzeit in der Ausstellung „Sand!Hū Sand“ im Hamburger | |
| Kunsthaus zu Gast, hat das erst als junger Erwachsener erfahren. Denn er | |
| ist im Südafrika der [1][Apartheid] aufgewachsen, das für Indigene eine | |
| minderwertige – und schon gar nicht über eigene Wurzeln informierende – | |
| Bildung vorsah. | |
| In den 1980er-Jahren hat der Maler, Lehrer und Anti-Apartheids-Aktivist | |
| dann in der Instrumentenabteilung des Kapstadter Museums für | |
| Sozialgeschichte diese Bögen gesehen, „und das war eine Initialzündung“, | |
| sagt er. Es war der Moment, in dem er sich von den Normen der | |
| europäisch-kolonialistischen Kunstausbildung befreite und seine eigenen | |
| Wurzeln, Materialien, Methoden suchte. | |
| Was dabei unter anderem herauskam: selbst gebaute Mundbögen, einige | |
| mitgebracht, weitere für die Hamburger Ausstellung aus ad hoc vorgefunden | |
| Materialien gebaut – Blechdosen, ein Kanister. Und auch wenn zur | |
| Demonstration mal kurz darauf spielt, sind sie doch explizit als | |
| Installation gedacht – eine subtile Anspielung auf den musealen Kontext, in | |
| dem er die Instrumente in Kapstadt vorfand. | |
| Auch die niedrigen Tische, auf die er seine kleinen seriellen | |
| „Sandbild“-Blätter gelegt hat, erinnern an Schaudepots kolonialer | |
| Forschungsstationen. Der teils rötlich oder blau schimmernde Sand stammt | |
| aus jener dürren Gegend, in die die Indigenen – ursprünglich am fruchtbaren | |
| Fuß des [2][Tafelbergs] lebend – vom Apartheidsregime vertrieben wurden. | |
| Für Erasmus ist dieser Sand Anlass und Symbol für Grabungen, für das | |
| Schürfen nach Spuren der Vergangenheit, das Freilegen von Vergessenem. | |
| ## Nicht bei der Wurzelsuche stehen bleiben | |
| Teils hat er die Oberfläche der Blätter durch Noppen und Schnitte versehrt, | |
| teils Figürliches in den Sand gezeichnet: eine menschliche Silhouette, | |
| einen Unterkiefer, Tierspuren, Pflanzenteile – und natürlich den Mundbogen. | |
| Fast archaisch sieht das aus und erinnert daran, dass die Khoi-San zu den | |
| wohl ältesten Völkern der Erde zählen. Auch den Mundbogen, heute noch in | |
| Taiwan, Neuguinea und Südafrika gespielt, finden sich schon auf 15.000 | |
| Jahre alten französischen Felszeichnungen. | |
| Stehen bleiben will Erasmus bei dieser nachholenden Wurzelsuche allerdings | |
| nicht, denn dann wäre die indigene Vergangenheit erneut – wie im | |
| Kolonialismus – von der Gegenwart abgeschnitten. Der Künstler will vielmehr | |
| ergründen, was das Vorgefundene heute bedeutet, will es weiterentwickeln. | |
| Das heißt zum Beispiel, dass die alten Instrumente nicht auf traditionelle | |
| Musik beschränkt bleiben, sondern auch in anderen Kontexten gedeihen. Im | |
| von ihm mitgegründeten Musikaktivistentrio Khoi Khonnexion und in anderen | |
| Bands ergeben Mundbogen, Elektronik, traditionelle und Free-Jazz-Elemente | |
| eine inspirierende Mixtur. | |
| Khoi Khonnexion war auch Teil des Musik-Theaterprojekts [3][„Das Haus der | |
| Herabfallenden Knochen“] 2018 auf Kampnagel Hamburg, das in namibischen | |
| Volkserzählungen nach Spuren deutscher Märchen suchte. Und immer waren in | |
| der Performance die Ahnen präsent, deren Schädel von der Decke fielen, sich | |
| zu Wort meldeten, gesehen werden wollten, bevor sie endlich Ruhe gäben. | |
| Wortmeldungen der besonderen Art hat auch Peter Thiessen erschaffen, | |
| langjähriger Gitarrist der Hamburger [4][Band „Kante“]. Im Kunsthaus | |
| verschafft er Materialien des „größten bekannten Sandhaufens, des Mars“ | |
| Gehör. In einer Art Küche platziert er Trockeneis und Wasser – auf dem Mars | |
| vorkommende Substanzen – so in Schüsseln und auf Metallscheiben, dass sie | |
| das Geräusch der gefrierenden und wieder tauenden Marspole erzeugen. Da | |
| knirscht und stöhnt es in den Ausstellungsraum hinein, als wolle die | |
| Materie etwas sagen. Er wolle die Aktivität unbelebter Materie erfahrbar | |
| machen, sagt Thiessen. | |
| Bezüglich der Definition von belebter oder unbelebter Materie hegt er | |
| nämlich große Zweifel. Ein Songtext berichtet von einem 2006 unter der | |
| Erdoberfläche Südafrikas durch den Forscher Tullis Onstott entdeckten | |
| Phänomen, das bislang noch nicht als – lebendes – Bakterium anerkannt ist. | |
| ## Einstige Goldminen als ökologische Zeitbombe | |
| Dabei wäre das wichtig, denn „was unbelebt ist, meint der Mensch | |
| hemmungslos ausbeuten zu können“, findet Thiessen. Da seien zum Beispiel | |
| die Goldminen von Witwatersrand bei Johannesburg, deren giftiger Abraum und | |
| Abwässer die Gegend bis heute beeinträchtigen. Beispielhaft nennt Thiessen | |
| in seinen Texten Cadmium und Cyan, spielt auch mit der Ambivalenz von Ethik | |
| und Ästhetik, wenn er dazwischen adrette Farbfotos der Giftlauge | |
| einblendet. | |
| Konzipiert sei die Ausstellung „Sand!Hū Sand“ („!Hū“ bedeutet in der | |
| Khoi-San-Sprache Khoekhoegowab „Sand“) als Fortführung des erwähnten | |
| Kampnagel-Projekts, sagt Kunsthaus-Chefin Katja Schroeder. Sie habe die | |
| dort Beteiligten eingeladen, ihre Recherche-Erfahrungen für den White Cube | |
| zu übersetzen – wobei es zwischendurch Konzerte und Performances auch der | |
| namibischen Spoken-Word-Künstlerin Nesindano „Khoes“ Namises über bis | |
| heute aktuelle koloniale Strukturen geben werde. | |
| Damit ist auch die [5][Ausbeutung der Ressource Sand] gemeint, befeuert | |
| durch Baubooms in Asien und Europa. Und da sich der rundkörnige Wüstensand | |
| nicht zur Betonherstellung eignet, baggert man Meeres-, Fluss- und Ufersand | |
| aus, saugt am Meeresgrund, trägt Strände ab. Einige Länder haben den Export | |
| von Sand bereits untersagt, aber diese Verbote werden unterlaufen, | |
| Lebensräume und Landschaften im großen Stil zerstört. | |
| Auch das ist eine Form von Kolonialismus, der auch solche Landschaften | |
| zerstört, die Europäer gern zum Idyll verklären. Diesen andauernden | |
| kolonialen Blick hat auch die Hamburger Künstlerin und Musikerin Ruth May | |
| auf der gemeinsamen Namibia-Recherchereise beobachtet. | |
| Um dieser gefährdeten Wahrnehmung auf die Spur zu kommen, hat sie für die | |
| Hamburger Ausstellung riesige Patchwork-Stoffbilder genäht, die wie | |
| verpixelte Landschaftsfotos aussehen. Zum kohärenten Bild zusammensetzen | |
| kann man die Aufnahmen nicht, weil man im sich weiter entfernen müsste, als | |
| es im Kunsthaus möglich ist. Man steht also viel zu dicht vor den Stoffen | |
| und kann höchstens erahnen, was sie ergeben könnten. Aber genau dieser | |
| selbstreflexive Schwebezustand ist ja gewollt. | |
| 15 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Erzbischof-Desmond-Tutu-ist-tot/!5824322 | |
| [2] /Jahrhundertduerre-in-Kapstadt/!5497168 | |
| [3] /Musiktheater-ueber-Kolonialgeschichte/!5527849 | |
| [4] /Album-In-der-Zuckerfabrik-von-Kante/!5025825 | |
| [5] /Raubbau-am-Victoriasee/!5521169 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
| ## TAGS | |
| Ausstellung | |
| Kolonialismus | |
| Südafrika | |
| Mars | |
| Hamburg | |
| Ausstellung | |
| Donna Haraway | |
| Kunsthaus Hamburg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausstellung „From Creatures to Creators“: Online unsterblich | |
| Das Hamburger Kunsthaus beschäftigt sich mit der menschlichen Sehnsucht | |
| nach der Überwindung von Fesseln, Schranken und Tod. | |
| Ausstellung „Making Kin“ in Hamburg: Knietief im Kompost | |
| Das Kunsthaus Hamburg macht in der Ausstellung „Making Kin“ das | |
| Theoriegebäude der US-amerikanischen Philosophin Donna Haraway begehbar. | |
| Streit über Birkenstock-Werbefoto: Kind darf nicht Kunst sein | |
| Birkenstock-Chef verklagt die Künstlerin Ida Ekblad und Hamburgs Kunsthaus | |
| wegen Verwendung eines Werbefotos, das seine kleine Tochter zeigt |