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# taz.de -- Rechtsterrorprozess in Frankfurt: „Operation Ranzekacke“
> Gefährlich oder nur geltungssüchtig? In Frankfurt verhandelt das
> Oberlandesgericht gegen den 20-jährigen Marvin E. aus Nordhessen.
Bild: Ausführlich sprach der Angeklagte Marvin E. vor dem Oberlandesgerichts F…
Frankfurt am Main taz | Vor dem Staatsschutzsenat des Frankfurter
Oberlandesgerichts muss sich seit Anfang August der Tischler-Azubi Marvin
E. aus dem nordhessischen Spangenberg verantworten. Die Bundesanwaltschaft
hat schweres Geschütz aufgefahren: Sie wirft dem 20-Jährigen die versuchte
Bildung einer terroristischen Vereinigung, die Vorbereitung einer schweren
staatsgefährdenden Gewalttat sowie Verstöße gegen das Waffen- und
Sprengstoffgesetz vor.
Plan von Marvin E. sei es gewesen, in Nordhessen einen Ableger der
[1][US-Neonazi-Terrorgruppe „Atomwaffen Division“] zu gründen, um mit
Sprengstoffanschlägen einen „Rassenkrieg“ in Deutschland zu entfachen.
Dafür habe er gefährliche Sprengbomben gebaut und Waffen gesammelt, so die
Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift.
Seit seiner Festnahme im September 2021 sitzt der junge Mann in
Untersuchungshaft. [2][Am ersten Verhandlungstag am 2. August] war
lediglich die Anklage verlesen worden. An diesem Freitag kam nun erstmals
der Angeklagte selbst zu Wort. Das Bild, das er von sich zeichnet, scheint
kaum zu den monströsen Vorwürfen gegen ihn zu passen.
Im viel zu großen roten T-Shirt schlendert der Untersuchungshäftling in den
Gerichtssaal, ein schmächtiger junger Mann, der leicht auch als 16-Jähriger
durchgehen würde. Sein Gesicht ist das eines „Lausbuben“, offene große
Augen, hohe Stirn, kleiner Mund, rote Bäckchen. Seine braunen Haare sind
kurz geschoren, den Hinterkopf bedeckt eine blondierte Strähne.
Marvin E. wirkt nur zu Beginn etwas motzig. In die auf ihn gerichteten
Objektive von Fotografen und Kameraleuten blickt er eher freundlich und
gelassen. Im großen Verhandlungssaal II des Oberlandesgerichts sitzt er
immerhin zwei Bundesanwälten, einem Gutachter und den Vertretern der
Jugendgerichtshilfe gegenüber. Auf dem Podium nehmen neben den beiden
Schöffen gleich drei promovierte BerufsrichterInnen in ihren schwarzen
Roben Platz.
Doch der 20-Jährige wirkt angesichts der eindrucksvollen Kulisse nicht
befangen. Höflich antwortet er auf die Nachfragen des Gerichts, das ihn
kennenlernen will. „Schließlich entscheiden wir über Ihre Zukunft“, hatte
ihn der Vorsitzende Richter Christoph Koller erinnert.
## Am Handwerklichen interessiert
Rund drei Stunden gibt Marvin E. Auskunft über sein Leben. In der
Grundschule muss er eine Klasse wiederholen. Rechtschreiben liegt ihm
nicht, Mathe eher. Als er in eine Förderschule wechselt, ist er bereits 12
Jahre alt. Auf einer Berufsfachschule macht er anschließend mit Mühe einen
mittelmäßigen Hauptschulabschluss.
Weil der Tischler, bei dem er im Praktikum war, nur einen Azubi
unterbringen kann, muss Marvin E. auf den Wunsch-Ausbildungsplatz warten.
Den Versuch, in der Wartezeit die Realschule abzuschließen, bricht er ab.
Das Handwerkliche liegt ihm.
Seine Freizeit verbringt er vor allem am Computer, bei Ego-Shooter-Spielen.
„Leute umnieten, Hauptsache ballern“, beschreibt Marvin E. seine
Lieblingsbeschäftigung. Er erlebt sich in seiner Schulzeit eher als
Einzelgänger. Gleichwohl spielte er eine Zeit lang in einem Musikzug, erst
Klarinette, dann Waldhorn.
Marvin E. beginnt, elektronische Bauteile zusammenzustecken und Platinen zu
löten, erwirbt Fähigkeiten, die ihm später beim Bombenbauen geholfen haben
dürften.
## Bewaffnet mit Schnaps und Bier durchs Unterholz
Die Sätze des 20-Jährigen fallen meist kurz aus, oft weiß er keine Antwort,
nicht einmal das Alter seiner beiden Schwestern oder seines Vaters kann er
nennen. Immer dann zeigt er ein verlegenes Grinsen. Vor allem immer dann,
wenn persönliches zur Sprache kommt, etwa seine spärlichen sexuellen
Erfahrungen oder auch die kinderpornografischen Dateien auf seinem Computer
und seinem Handy. „Das ist nix für mich“, versichert Marvin E., ein
unbekannter Chatpartner habe ihm die inkriminierten Dateien geschickt, er
habe nur versäumt, sie zu löschen.
Irgendwann interessiert sich Marvin E. für Militärisches. Mit einem Kumpel
beginnt er im Jahr 2020 Survivaltrainings. In Tarnuniformen der Bundeswehr,
mit Sturmgepäck, in Knobelbechern, bewaffnet mit Schnaps und Bier, streifen
sie durchs Unterholz, drehen leicht alkoholisiert Handy-Videos von ihren
Einsätzen. Bei der Vorführung vor Gericht wirken diese Sequenzen aus dem
März 2020 eher lächerlich als bedrohlich.
Doch bereits in dieser Zeit muss sich Marvin E. radikalisiert haben. Als er
im September 2021 aufgrund eines Hinweises der Bundesbehörden auffliegt und
festgenommen wird, finden die Fahnder 13 selbstgebastelte Bomben, die wegen
ihres gefährlichen Sprengstoffs und ihrer Splitterladungen „immense
Schäden“ hätten auslösen können, heißt es in der Anklage.
In einem mit „Operation Ranzekacke“ überschriebenen Text habe Marvin E. im
Juli letzten Jahres seine Pläne dargelegt, mit Anschlägen gegen Moslems,
Juden und Ausländer innerhalb von drei Jahren einen Rassenkrieg zu
entfachen, ist die Bundesanwaltschaft überzeugt. Der Austausch der weißen
Rasse durch Fremde müsse verbunden werden, ist in dem kruden Text unter der
merkwürdigen Überschrift zu lesen.
„Wollten Sie angeben“, fragt ihn sein Verteidiger nach der Sichtung eines
Posing des jungen Mannes in Uniform. Marvin E. nickt. Es ging ihm wohl auch
um Anerkennung und Wahrnehmung.
## Kandidatur für die CDU
Beinahe hätte er es immerhin in den Ortsbeirat seiner Heimatgemeinde
geschafft. Als Kandidat trat der damals 19-Jährige im Jahr 2021 für die
örtliche CDU bei der hessischen Kommunalwahl an. Ein Freund seines Chefs,
bei dem er regelmäßig aushalf, zum Beispiel beim Rasenmähen, hatte ihn zu
CDU-Veranstaltungen mitgenommen. Auf Platz 14 der Liste kandidierte Marvin
E. und bekam immerhin 301 Stimmen. Die CDU verortet er „mehr so in der
Mitte, vielleicht ein bisschen rechts, aber auch links“. Beigetreten ist er
ihr nicht.
Die Kandidatur des inzwischen Terrorverdächtigen für die hessische
Regierungspartei [3][teilten die Behörden erst nach der Bundestagswahl im
vergangenen Herbst mit], lange nach seiner Festnahme. Obwohl sie früher
davon wussten. Noch immer findet man das fröhliche Gesicht von Marvin E. im
Internet. Es ist das Foto, mit dem die örtliche CDU für ihren jungen
Kandidaten warb.
Aktuelle Fotos vom Angeklagten müssen inzwischen verpixelt und damit
unkenntlich gemacht werden, darauf wies am Freitag erneut der Vorsitzende
Richter hin. Das Gericht verhandelt zwar öffentlich, lässt aber
ausdrücklich offen, ob es Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anwenden wird.
Anfang September, nach der Sommerpause soll weiter verhandelt werden. Am
Ende wird das Gericht entscheiden müssen, ob da ein gefährlicher, zum
letzten entschlossener Bombenleger mit rassistischer Gesinnung auf der
Anklagebank sitzt oder ein unreifer Hänfling mit Geltungsdrang und
verquasten Ideologien im Kopf oder irgendetwas dazwischen. Die
Prozesstermine sind bis in den November angesetzt.
13 Aug 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Christoph Schmidt-Lunau
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