# taz.de -- Scholz, Abbas und die SPD: Unglaublich nah am Bullyradar | |
> Man muss den Mund aufmachen, damit Bullys nicht die Macht übernehmen. Das | |
> gilt für Olaf Scholz, für die Autorin und ihre Tochter. | |
Bild: Manchmal sollte und muss man den Mund aufmachen | |
Es ist ja immer peinlich, wenn das eigene Leben nur auf | |
Kalenderspruchniveau dahindümpelt. Aber tja, nun. Die quälendsten | |
Erinnerungen habe ich halt tatsächlich nicht an Dinge, die ich gesagt, | |
sondern an Momente, in denen ich geschwiegen habe. Und weil ich ein | |
konfliktscheuer Mensch bin, sind das viele. Was ich damit sagen will: Olaf | |
(ich finde, in dieser Kolumne bleiben wir beim Du mit dem Bundeskanzler, | |
das ist demokratisch, und Siezen doch ganz allgemein ziemlich antiquiert), | |
Olaf also, ich versteh dich. Ein bisschen wenigstens versteh ich dich. | |
Andererseits bist du eben Chef von Schland und ich nicht. Mein alter Freund | |
M. zitiert in solchen Fällen gern das Peter-Prinzip, nach dem jeder | |
Beschäftigte bis zur Stufe seiner persönlichen Unfähigkeit aufsteigt. Die | |
sollte man kennen. Wenn ich auch sonst wenig erreicht hab im Leben – ich | |
kenne meine. Deshalb würde ich nie, wirklich nie, nicht mal im nächsten | |
Leben Politikerin werden. | |
Denn da brauchts Leute, die im richtigen Moment den Mund aufmachen. | |
Manchmal ist der nur Sekunden kurz. Etwa, wenn ein Möchtegern-Präsident – | |
wer sich nicht mehr demokratisch legitimieren lässt, gilt mir nur noch als | |
Wannabe (looking at you, Wladi) – [1][Holocaustvergleiche zieht]. Dabei ist | |
egal, wo der Möchtegern das tut, weil [2][den Holocaust vergleichen immer | |
und überall falsch ist]. | |
Also, Olaf, klar, es ist immer unangenehm, wenn der Gast sich | |
danebenbenimmt. Man mag nicht unhöflich sein, nicht kleinherzig | |
rüberkommen. Aber die Bullys enablen, ihnen also ermöglichen, Bullys zu | |
sein, ist auch keine Lösung. Deshalb hier ein Rat von meinem Therapeuten, | |
gratis für Dich: „Trauen Sie sich!“ (sorry, aber mein Therapeut siezt eben | |
noch). Apropos Bully, es gab ja in meinem Leben [3][schon einmal einen | |
SPD-Kanzler]. Meistens kann ich das ganz gut verdrängen, so wie man manche | |
Bekanntschaften verdrängt, bei denen man anfangs dachte: Wow, das ist aber | |
mal eine verwandte Seele, hier rennt der Schmäh, alles geschmeidig. | |
## Altlasten der Fehleinschätzung | |
Bis man sich nach einigen Wochen fragt, warum man sich nach jedem Treffen | |
so leer und erschöpft fühlt. Und warum man sich schon lange nicht mehr bei | |
seinen echten Freunden gemeldet hat. Dann checkt man: Die Euphorie über die | |
neue Bekanntschaft war nur da, weils vorher noch ätzender war (looking at | |
you, Helmut). Und noch mal ein paar Wochen später ist es einem peinlich, | |
dass man wieder eine:n Narzisst:in nicht erkannt hat. | |
Manchmal bleiben sogar unschöne Altlasten der eigenen Fehleinschätzung. Der | |
Hartz-Bericht etwa, der das Elendspaket erst möglich machte, ist diese | |
Woche 20 Jahre alt geworden, herzlichen Glückwunsch! Glücklicherweise wird | |
der Bullyradar feiner, wenn man Eltern wird. Vielleicht als Ausgleich zum | |
Restverstand, der in einem Säurebad aus Schlafmangel und Glückshormonen | |
korrodiert. Während meine Tochter noch freundlich winkend „Hallo“ ruft, | |
sehe ich inzwischen schon, dass der angehimmelte Knirps ihr gleich ihr | |
eigenes Spielzeug über den Schädel ziehen wird. Ich hoffe, diese neue | |
Begabung überträgt sich auch in mein Wahlverhalten – politisch wie privat. | |
## Beim Ausrasten steht man für sich selbst | |
Wenn nicht, werde ich wahrscheinlich vor lauter angestauter Wut über mein | |
eigenes Bully-Enabling irgendwann [4][austicken wie Christian Schmidt]. Der | |
frühere CSU-Landwirtschaftsminister ist inzwischen als hoher Repräsentant | |
der UNO in Bosnien und Herzegowina. Also eigentlich nicht die Rolle, in der | |
man den Mund aufreißt. Nach eigenen Aussagen wundert (offizieller | |
Euphemismus für: Es kotzt mich an) ihn, „dass in der Föderation von | |
Bosnien-Herzegowina seit vier Jahren keine Regierung ernannt worden ist, | |
und manche das so einfach hinnehmen“. Über seinen Ausfall waren nun | |
wiederum alle anderen sehr verwundert. | |
Was ist jetzt besser, schweigen oder ausrasten? Kommt darauf an, klar. Für | |
heute halte ich mal fest: Unter Schweigen versteckt sich meist was anderes, | |
mit Ausrasten steht man für sich selbst. Muss ich jetzt nur noch meiner | |
Tochter beibringen. Die wundert sich nämlich auch meistens stumm. | |
21 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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