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# taz.de -- Schiiten im Irak: Neue Zerreißprobe in Bagdad
> Der Irak ist seit Monaten durch einen innerschiitischen Machtkampf
> gelähmt. Der droht zu eskalieren und könnte in einem bewaffneten Konflikt
> enden.
Bild: Anhänger des schiitischen Politikers Muktada Sadr während eines Sit-Ins…
Kairo taz | Fast fünf Jahre nachdem der Irak den Sieg über den sogenannten
Islamischen Staat proklamiert und ein Jahr nachdem die US-Regierung das
letzte Mal das Ende ihres dortigen Kampfeinsatzes verkündet hatte, kommt
das Land einfach nicht zur Ruhe.
Eigentlich war im Irak vor zehn Monaten ein Parlament gewählt worden. Das
aber hat es bis heute nicht geschafft, einen Ministerpräsidenten zu
bestimmen, der eine funktionierende Regierung auf die Beine stellt. Grund
ist ein Tauziehen zwischen dem schiitischen Politiker Muktada Sadr und
seinen Rivalen einer proiranischen Parteien-Allianz.
Alles begann mit einer Rede des populären Schiitenpolitikers und Predigers
Sadr am 3. August, in der er die Auflösung des erst gewählten Parlaments
und Neuwahlen verlangte. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, hatte
er zuvor seine Anhänger aufgefordert, [1][das Parlament kurzzeitig zu
besetzen].
Doch warum will ausgerechnet Muktada Sadr, der die Wahlen vor zehn Monaten
eigentlich gewonnen hatte, das Parlament in Bagdad auflösen? Für ihn war
sein damaliger Wahlsieg nicht eindeutig genug, er hätte sich mit anderen
schiitischen Parteien arrangieren müssen. Und genau dort liegt der
gordische Knoten aktueller irakischer Politik. Denn die Zeiten der
Konsenssuche, mit deren Hilfe schiitische Parteien die politische Szene in
Bagdad gegenüber Sunniten und Kurden seit dem Sturz Saddam Husseins
dominierten, sind vorbei.
## Einfluss des Iran
Bisher waren die Schiiten immer mehr oder weniger geeint gegenüber den sie
bedrohenden Krisen – sei es gegen den Terror des sogenannten Islamischen
Staats oder gegen kurdische Abspaltungsbewegungen. Da diese Krisen
überstanden sind, hat nun unter den Schiiten der Kampf begonnen, wer die
schiitische Macht monopolisieren kann: Sadr oder die proiranischen
Parteien. Bisher konnte sich keine Seite durchsetzen.
Bevor Sadr die Auflösung des Parlaments forderte, hatte er seine
Abgeordneten von dort abgezogen, weil sie sich nicht mit den anderen
schiitischen Parteien über einen neuen Ministerpräsidenten einig wurden.
Daraufhin wählten die anderen schiitischen Parteien Mohammed Shia Sudani
als Ministerpräsidenten, der Sadr aber nicht genehm war. Das war der
Moment, in dem Sadr seine Muskeln spielen ließ und das Parlament von seinen
Anhängern besetzen ließ.
In dem innerschiitischen Machtkampf spielt auch die Frage eine Rolle,
[2][wie viel Einfluss das Nachbarland Iran auf den Irak] haben soll. Sadr
verspricht eine vom Iran unabhängigere Politik zu fahren, seine Gegner vom
proiranischen Parteienbündnis stellen sich dem entgegen.
Nach jedem Freitagsgebet lässt Sadr in der Regel seine Anhänger auf der
Straße mobilisieren, um seiner Forderung nach der Auflösung des Parlaments
Nachdruck zu verleihen, so auch letzte Woche. „Unser Führer Muktada Sadr
hat uns aufgefordert zu bleiben, bis das Parlament aufgelöst ist und
Neuwahlen beschlossen werden“, erläutert der Demonstrant Dhaher Al-Ataiby
letzten Freitag die Linie der Sadr-Partei.
Nun hat Sadr die Daumenschrauben noch ein wenig enger gezogen und ein
Ultimatum gestellt: Er fordert, dass das Parlament bis Ende dieser Woche
aufgelöst wird. Dabei begibt er sich in eine konstitutionelle Grauzone. Das
verfassungsmäßige Ultimatum für das Parlament, einen Ministerpräsidenten zu
wählen, sei abgelaufen. Daher müsse es aufgelöst werden, argumentiert er.
Wie das aber geschehen soll, ohne dass die Abgeordneten noch einmal
zusammenkommen, ist unklar. Sadr fordert, dass die Justiz diese Rolle
übernehmen soll. Die lehnt das aber ab.
## Droht ein Bürgerkrieg?
Sadr will unter allen Umständen verhindern, dass das Parlament noch die
Regeln für die nächsten Wahlen ändert. Er hofft, dass Neuwahlen ihm den
entscheidenden Vorteil über seine schiitischen Rivalen verleihen und er von
der zunehmend [3][antiiranischen Stimmung auch unter Iraks Schiiten]
profitiert.
Dabei scheinen nun drei Szenarien möglich. Sadr könnte sich mit seiner
Forderung durchsetzen, auch mit Hilfe seiner Anhänger, die er auf der
Straße nach Belieben aktivieren kann. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass er
seine Abgeordneten doch wieder ins Parlament schickt und man sich doch noch
auf einen Ministerpräsidenten einigen kann.
Die für den Irak schlimmste Option wäre, wenn die schiitischen
Gruppierungen ihren Machtkampf bewaffnet in einem innerschiitischen
Bürgerkrieg auf die Straße tragen würden. Das wäre das Letzte, was dem seit
Jahrzehnten geschundenen Irak und seinen Menschen zu wünschen wäre.
18 Aug 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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