# taz.de -- Iranische Dominanz auf dem Prüfstand: Gemeint sind alle von ihnen | |
> Seit Wochen kommt es im Irak und im Libanon zu Massendemos. Der | |
> überkonfessionelle Protest wird auch dem Regime im Iran gefährlich. | |
Bild: Fußballfan oder Demonstrantin? | |
KAIRO taz | Beim Fußball-WM-Qualifikationsspiel zwischen dem Irak und dem | |
Iran diese Woche ließen die irakischen Fans nach einem 2:1-Sieg des Irak | |
ihren Gefühlen gegen den Iran freien Lauf. „Wir werden uns nicht mehr in | |
Sunniten und Schiiten teilen lassen“, skandierten sie, „Iran raus!“ | |
Die irakischen Fußballfans hatten das Spiel auf einer großen Leinwand auf | |
dem Tahrirplatz in Bagdad verfolgt, wo sie gegen Misswirtschaft und | |
Korruption protestieren. Die lasten sie gerade jenen schiitischen Politkern | |
an, die die Politik in Bagdad nun seit Jahren dominieren und die sie als | |
iranische Marionetten betrachten. Das eigentliche Spiel fand aus | |
Sicherheitsgründen in Jordaniens Hauptstadt Amman statt. Der internationale | |
Fußballverband hatte den Irak als zu unsicher beurteilt. | |
In den seit Anfang Oktober [1][im ganzen Land andauernden Protesten] kamen | |
bisher mehr als 300 Menschen ums Leben. Oft waren es vom Iran kontrollierte | |
schiitische Milizen, die auf die Demonstranten feuerten. | |
Es wird immer deutlicher, dass die neue arabische Protestwelle, die gerade | |
nicht nur über den Irak, [2][sondern auch den Libanon schwappt], auf Dauer | |
nicht spurlos am Iran vorübergehen kann. Denn der Iran und seine | |
Verbündeten in der Region gelten als die wichtigsten Verfechter des Status | |
quo, gegen den die Iraker und Libanesen nun seit Wochen auf die Straße | |
gehen. | |
In beiden Ländern, in denen Schiiten, Sunniten und Christen leben, ist die | |
Politik streng entlang konfessioneller Linien definiert. Nun wird durch | |
überkonfessionelle Proteste gegen Misswirtschaft und Korruption erstmals | |
das gesamte politische System infrage gestellt. | |
Für die Demonstranten steht damit nicht die religiöse, sondern die soziale | |
und nationale Identität im Vordergrund. Das rüttelt auch an den Fundamenten | |
der iranischen Politik. Der Iran präsentiert sich als Schutzmacht der | |
Schiiten und nutzt im Gegenzug die schiitischen Gemeinschaften, um seine | |
Ziele in der Region durchzusetzen. | |
## Es sind die Unterprivilegierten, die rebellieren | |
Umso brisanter für Teheran, dass die Proteste auch innerhalb der | |
schiitischen Gemeinschaften im Libanon und im Irak stattfinden. Dort werden | |
gerade jene politischen Gruppierungen kritisiert, die mit iranischer | |
Vollmacht agieren, seien es die Hisbollah im Libanon oder die zahlreichen | |
schiitischen Parteien und Milizen im Irak. | |
Dabei stehen die iranische Führung und ihre Satelliten vor einem völlig | |
neuen Problem: Sowohl im Irak als auch im Libanon sind es meist die | |
Unterprivilegierten, die sich von den sozialen Protesten angezogen fühlen. | |
Also genau jene, die die iranische Führung mit ihrer Ideologie als | |
vermeintlicher Schutzpatron der unterdrückten schiitischen Massen zu | |
unterstützen vorgibt. | |
Die Proteste im Irak und im Libanon stellen also für die herrschende | |
religiöse Elite im Iran eine latente Gefahr dar, ihren Einfluss in der | |
Region zu verlieren. Die würde noch viel größer, wenn die Proteste in den | |
arabisch-schiitischen Gemeinschaften sogar in den Iran überschwappen | |
würden. Die größte Sorge der Herrscher in Teheran ist es, die schiitische | |
Straße in der arabischen Welt zu verlieren, und am Ende möglicherweise | |
sogar im eigenen Land infrage gestellt zu werden. | |
Mit Entsetzen dürften sie die Szenen auf Bagdads Tahrirplatz beobachtet | |
haben, als Demonstranten Plakate mit dem durchgestrichenen Gesicht des | |
obersten iranischen Revolutionsführers Ajatollah Chamenei hochhielten. | |
Einige Demonstranten schlugen sogar mit ihren Schuhsohlen auf die Plakate | |
ein. | |
Aber es sind nicht nur diese eindeutigen iranischen Symbole, die vorwiegend | |
schiitische Demonstranten im Irak verächtlich machen. Die Schuld am | |
Scheitern des irakischen politischen Systems, an Korruption und | |
Misswirtschaft wird direkt jenen Klerikern und Politikern zugeschrieben, | |
die die Regierung in Bagdad ebenso beherrschen wie die Lokalverwaltungen in | |
den schiitischen Gebieten. | |
## Nach dem US-Abzug kamen die Iraner | |
Im Irak folgte nach dem Sturz Saddam Husseins die Besetzung durch die USA, | |
dann der Rückzug der US-Truppen. Das damals entstandene politische und | |
militärische Vakuum wurde vom Iran gefüllt. Jetzt zahlt Teheran den Preis | |
für die iranische Dominanz der politischen Szene im Irak – und für dessen | |
Scheitern. Teheran ist sich durchaus bewusst, dass es ohne die Drohkarte | |
seiner regionalen Verbündeten, von der Hisbollah über die schiitischen | |
Milizen im Irak bis hin zum Assad-Regime, wesentlich verwundbarer ist. | |
Die Reaktion aus Teheran folgt einem alten Muster. Chamenei rief „alle, | |
die den Irak und den Libanon lieben“, dazu auf, kein Chaos zuzulassen, „das | |
von den USA, Israel und anderen westlichen Ländern verursacht wird, | |
finanziert von einigen rückständigen Ländern“. Letzteres ist ein Verweis | |
auf Saudi-Arabien. Ähnliches hat auch Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im | |
Libanon angedeutet. Die iranische Befürchtung, dass die | |
Regionalmachtkonkurrenz Saudi-Arabien alles daransetzen wird, jeden von | |
iranischem Einfluss befreiten Raum selbst zu besetzen, ist durchaus real. | |
Für die nicht in politischen Parteien organisierten Demonstranten im Irak | |
ist es wichtig, sich nicht vom saudischen Einfluss vereinnahmen zu lassen. | |
Einen iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chamenei durch einen | |
saudischen Kronprinzen Bin Salman, der ebenfalls kaum Interesse an einer | |
demokratischen Entwicklung hat, zu ersetzen, kann kaum im Sinne der Iraker | |
sein. Das beste Rezept für die irakische und die libanesische | |
Protestbewegung ist es, überkonfessionell und inklusiv zu bleiben und von | |
allen Seiten mehr demokratische Rechenschaft einzufordern. | |
## Europa sollte die Finger davon lassen | |
Europa und die USA wären gut beraten, sich aus diesem Konflikt zwischen | |
arabischen Protestbewegungen und iranischen Stellvertretern herauszuhalten. | |
Es ist sicher verlockend, die Protestwelle zu nutzen, um den iranischen | |
Einfluss in der Region zurückzudrängen. | |
Die Politik des US-Präsidenten Donald Trump, „maximalen Druck“ auf Teheran | |
auszuüben, sowie alle internationalen Sanktions- und Isolationsversuche | |
haben meist eher den Schulterschluss der Iraner mit ihrer Führung | |
begünstigt. | |
Die aktuelle arabische Protestbewegung kann dagegen für die | |
Polit-Ajatollahs und Revolutionsgardisten schnell zu einem wirklichen | |
Legitimationsproblem werden. | |
Jede Verbindung, die sich zwischen den USA, dem Westen und den Golfstaaten | |
zu den Protestbewegungen herstellen lässt, wäre Gift für Iraker und | |
Libanesen. Das würde den schiitischen Milizen im Irak und der Hisbollah im | |
Libanon den perfekten Vorwand liefern, die Proteste endgültig gewaltsam zu | |
beenden. | |
17 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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