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# taz.de -- Feminismus im ultraorthodoxen Judentum: Sie sind so frei
> Ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaften in Israel wirken abgeschlossen.
> Dabei ist dort viel möglich. Ein Besuch bei Frauen, die sich Rechte
> ertrotzen.
Bild: Hat sich an den Feminismus herangetastet: Aktivistin Hila Hassan Lefkowitz
Bis vor vier Jahren war Hila Hassan Lefkowitz, 41 Jahre alt, davon
überzeugt, dass Feminismus nichts mit ihr zu tun hat. Feminismus, das war
in ihren Augen etwas, das zur säkularen Welt gehörte. Sie selbst aber
bezeichnet sich als Haredit, gottesfürchtig. Haredim, also ultraorthodoxe
Jüdinnen und Juden, leben für gewöhnlich weitgehend abgeschottet von den
Vorstellungen der übrigen israelischen Gesellschaft.
Statt auf Gleichberechtigung legen die Mitglieder der ultraorthodoxen
Gemeinschaften Wert auf Geschlechtertrennung und haben ein eigenes Justiz-
und Bildungssystem. Im Zweifel entscheiden Rabbiner – und die sind
männlich.
Dass sich Feminismus und Ultraorthodoxie ausschließen, davon sind
wahrscheinlich die allermeisten Menschen überzeugt. 2020 war die
[1][Netflix-Serie „Unorthodox“] erfolgreich, die auf dem autobiografischen
Roman von Deborah Feldman basiert. Feldman beschreibt ihre Befreiung als
junge Jüdin aus einer New Yorker ultraorthodoxen Gemeinde. Sie musste diese
Welt verlassen, um nach ihren Vorstellungen leben zu können. Einige Frauen
in Israel aber suchen einen anderen Weg.
Mit rotem Lippenstift, pink-weißem Kopftuch und langem schwarzen Kleid
sitzt Hila Hassan Lefkowitz in ihrem Stammcafé in der israelischen Stadt
Netanja und beschreibt ihre Verwandlung zur Feministin. Angefangen hat für
sie alles bei ihrem ersten Treffen mit der Initiative Nivcharot im Jahr
2018. Durch Facebook war sie darauf aufmerksam geworden. „Damals“, erzählt
Hassan Lefkowitz, „wurden wir gebeten, dass diejenigen, die sich als
Feministinnen bezeichnen, in einen Kreis treten. Ich bin nicht
hineingegangen. Aber nach dem Treffen habe ich verstanden, dass Feminismus
Gleichberechtigung bedeutet. Und daran glaube ich.“
Als Nivcharot 2012 von der Ultraorthodoxen Esty Shushan gegründet wurde,
kam das einem Tabubruch gleich: Denn Nivcharot-Aktivistinnen kämpfen dafür,
dass sich auch ultraorthodoxe Frauen ins israelische Parlament wählen
lassen können. Sechzehn Knessetabgeordnete stellen die zwei ultraorthodoxen
Listen derzeit – darunter keine Frau. Sinngemäß übersetzt heißt Nivcharot:
„Frauen, die gewählt werden“.
Im Kreise der Aktivistinnen habe sie sich nicht mehr so alleine gefühlt,
sagt Hassan Lefkowitz. „Ich verstand, dass es in Ordnung ist, was ich
denke, dass meine Kämpfe legitim sind. Dass ich Unterstützung habe. Es gab
dort andere, die so denken wie ich – Verrückte wie mich.“
Innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft gibt es etliche Strömungen,
einige sind sehr verschlossen, andere liberaler. Generell gilt eine strikte
Trennung von Mann und Frau, die meisten haredischen Familien sind
kinderreich, die Frauen werden früh Mütter. Dass Frauen singen und tanzen,
sich körperlich ausdrücken, ist fast überall tabu.
Was es für diese Frauen bedeutet, sich für ihre Rechte einzusetzen,
unterscheidet sich von Community zu Community. Einige Frauen von Nivcharot
schrecken nach wie vor davor zurück, sich selbst als Feministinnen zu
bezeichnen: „Ich frage sie dann“, sagt Hassan Lefkowitz, „ob sie für
gleiche Rechte für Frauen sind und ob sie alles dafür tun würden, dass auch
ihre Töchter gleiche Rechte erhielten. Sie sagen dann alle ja. Damit sind
sie für mich Feministinnen.“
Mittlerweile ist Hassan Lefkowitz zu einer überzeugten Aktivistin geworden.
Sie geht mit Transparenten auf die Straße, ist in der Lokalpolitik aktiv
und nimmt an Ausschüssen des israelischen Parlaments teil, zu denen auch
Außenstehende eingeladen werden können. Ihr sei es von klein auf
schwergefallen, Kritik für sich zu behalten. Ihr Vater war in der
ultraorthodoxen Shas-Partei aktiv. Von ihm übernahm sie das Interesse für
die Politik – doch Hassan Lefkowitz glaubte, dass aktive politische
Beteiligung für sie als Frau nicht in Frage kommt. Bis sie Nivcharot
kennenlernte.
Für die meisten Frauen, die auf die Initiative stoßen, beginne eine
Revolution, sagt Hassan Lefkowitz. Als setzten sie eine andere Brille auf.
„Ab diesem Moment kann man nicht mehr zurück, man sieht die Ungerechtigkeit
überall, nicht nur in der großen Politik, auch in der Synagoge und zu
Hause.“
Für Hassan Lefkowitz war die Begegnung mit den anderen Aktivistinnen so
essenziell, dass sie ihren Job im Hitech-Bereich aufgab und
Projektmanagerin bei Nivcharot wurde. Mittlerweile hat sie diesen Job an
eine jüngere Mitstreiterin abgegeben und ist bei verschiedenen
Organisationen aktiv, die auf Gleichberechtigung in der haredischen
Gesellschaft zielen.
Die Arbeit für Nivcharot ist auch eine Gratwanderung: Permanent stellt sich
für die Aktivistinnen die Frage, wie weit sie gehen können, ohne aus ihren
haredischen Kreisen ausgeschlossen zu werden. Rausschmisse aus
Whatsapp-Gruppen, kritische Blicke und abfällige Bemerkungen seien
alltäglich, erzählt Hassan Lefkowitz. Der Kontakt zu einem geliebten Teil
ihrer Familie ist seit ihrem Engagement abgerissen. Und ständig besteht für
sie und ihre Mitstreiterinnen die Gefahr, dass ihre Söhne oder Ehemänner
von der Thora-Schule geworfen werden. In der haredischen Welt, in der das
Thora-Studium für die Männer zentraler Lebensinhalt ist, kommt dies einem
Ausschluss aus dem gesamten sozialen Gefüge gleich.
„Selbst wenn Rabbiner unsere Ideen unterstützen, können sie es uns nur
unter vier Augen sagen“, sagt Hassan Lefkowitz. Das sei auch bei ihrem
Rabbi nicht anders. Doch die resolute Frau und Mutter dreier Söhne hatte
auch Glück: „Bei vielen Frauen von Nivcharot gehen der Hausfrieden und die
Ehe in die Brüche“, sagt Hassan Lefkowitz. Ihr Mann aber unterstütze sie
und ihre drei Söhne seien stolz auf sie.
Für sie steht der Feminismus nicht mehr im Gegensatz zum strengen Glauben.
„Ich glaube sogar, dass wir näher an der Religion und am Glauben sind als
diejenigen, die uns klein machen und uns nicht die gleichen Rechte
einräumen wollen“, sagt sie und zeigt einen Flyer. „Wir glauben denen, die
verletzt wurden“, steht darauf. Darunter eine Telefonnummer, an die man
sich wenden kann.
„Diesen Flyer haben wir kurz nach dem Fall Walder verteilt. Seitdem ist für
mich auch dies Glaube: Laut auszusprechen, was ist. Keine Angst zu haben.“
Der Fall Walder erschütterte Ende vergangenen Jahres die ultraorthodoxe
Gesellschaft. Die israelische Tageszeitung Haaretz hatte enthüllt, dass
Chaim Walder, ein angesehener ultraorthodoxer Rabbiner, seit Jahrzehnten
zahlreiche Frauen und Kinder missbraucht haben soll. Walder stritt das ab,
daraufhin brachen mehr als ein Dutzend weiterer Opfer ihr Schweigen. Sechs
Wochen nach der Enthüllung beging Walder Suizid.
Vorkommnisse wie diese verändern die haredische Gesellschaft. Viele Eltern
beginnen gerade, an einigen ihrer Dogmen zu zweifeln, sagt Hassan
Lefkowitz. Sie sorgten sich darüber, dass Kinder in den religiösen Schulen
nicht über sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden, sondern dass ihnen
eingetrichtert werde, nicht mit „lashon HaRa“ – mit „böser Zunge“ �…
sprechen. Als Walder Suizid beging, sei vielen Kindern in der Talmudschule
erklärt worden, dass dies an der bösen Zunge liege – über ihn sei schlecht
geredet worden, das habe ihn in den Tod getrieben.
Hassan Lefkowitz startete mit anderen eine Aufklärungskampagne. Sie
druckten fast eine Million Flyer und verteilten sie im ganzen Land.
Mittlerweile hat Raya Mery, Mitte 20, den Posten als Projektmanagerin von
Hassan Lefkowitz übernommen – und ist voller Respekt für ihre
Vorkämpferinnen. „Sie standen in der Frontlinie und haben die ganzen
Angriffe abgekriegt“, sagt die Frau mit dem blaugrünen Kopftuch und dem
langen schwarz-weiß karierten Rock, während sie durch eine Büroetage in
einem Industriegebiet in Petah Tikva führt. „Die ersten Treffen von
Nivcharot wurden heimlich abgehalten, die Adressen nicht veröffentlicht,
keine Fotos gemacht. Viele Frauen hatten Angst vor Sanktionen, aus ihren
Kreisen verbannt zu werden“, erzählt sie. „Heute ist das anders. Es gibt
immer mehr Legitimität für unsere Anliegen. Frauen arbeiten mittlerweile im
Hitech-Bereich und können immer mehr für sich entscheiden.“
Und dies, obwohl es auch eine entgegengesetzte Entwicklung und eine
Radikalisierung in Sachen Geschlechtertrennung gibt: „Das kann man an den
Hochzeiten in unserer Community sehen“, sagt Mery: „Mittlerweile gibt es
geschlechtergetrennte Eingänge und Aufzüge bei Hochzeiten. Vor einigen
Jahrzehnten gab es die so noch nicht.“
Fünf Frauen Anfang Zwanzig lächeln ihr vor einem Büro entgegen, eine von
ihnen hält ein Baby im Arm. An diesem Abend wollen die jungen Frauen einen
Tik-Tok-Account für die Organisation einrichten und erste Videos dafür
drehen, um auch in den sozialen Medien für ihre Ziele zu kämpfen.
Dabei ist die Nutzung von sozialen Medien in der haredischen Welt nicht
selbstverständlich. In einigen Gemeinschaften ist das Internet tabu, einige
Ultraorthodoxe haben koschere Telefone mit begrenztem Internetzugang. Die
Frauen von Nivcharot sind alle online – einige haben einen Filter in ihr
Handy eingebaut, der Internetfunktionen sperrt, andere nicht.
Tzipi Blumenthal lacht, wenn man sie fragt, ob sie wegen Social Media schon
Probleme bekommen habe: „Jedes Mal, wenn ich mich auf Twitter mit Leuten
über Nivcharot streite, dann sagen sie: Ihr geht gegen die Rabbiner. Ich
erwidere dann immer: Hä? Wie schreibst du mir denn? Mit der Taubenpost? Du
bist in den sozialen Medien genauso unterwegs wie ich.“
Kurz darauf läuft Mery wie ein Model den Gang hinunter, ihr langer Rock
schwingt um ihre Hüften. „Super“, ruft eine der anderen Teilnehmerinnen,
drückt ihr Baby der Nachbarin in den Arm und beginnt zu filmen.
„In den haredischen Medien“, erklärt Mery später, „gibt es das Phänome…
die Gesichter von Frauen nur verschwommen zu zeigen. Wir wollen einen Clip
machen, der dieses Vorgehen lächerlich macht.“
„Wie würde eine Modenschau in den ultraorthodoxen Medien aussehen?“ kann
man am nächsten Tag auf dem Tiktok-Kanal von Nivcharot lesen. Zu einem
Hip-Hop-Stück laufen Mery und zwei andere Frauen wie Models den Gang
herunter. Ihre Gesichter allerdings sind verpixelt. Kurz darauf hat das
Video knapp zweihundert Likes. In einem der Kommentare legt ein Mann nahe,
dass die Frauen der Religion den Rücken zuwenden sollten – die haredische
Welt sei nicht an ihnen interessiert. Die Antwort folgt umgehend: „Warum
sollten wir die religiöse Welt verlassen? Weil wir Gleichberechtigung
wollen?“
Fragt man Mery danach, ob sie jemals mit dem Gedanken gespielt hat, sich
von der Religion abzuwenden, wiegt die Studentin der Genderwissenschaften
ihren Kopf hin und her: „Es gibt immer wieder Momente“, sagt sie, „in den…
ich denke, dass Feminismus und die haredische Welt nicht zusammengehen.“
Etwa, wenn sie bestimmten Einschränkungen durch die jüdische Halacha
begegne – der Vorschrift, die Haare zu bedecken oder andere Sittengesetze,
die nur für die Frauen vorgesehen sind. „Aber gleichzeitig sind Feminismus
und haredischer Glaube für mich fundamentale Bestandteile meines Lebens.
Den haredischen Glauben zu verlassen, würde für mich bedeuten, mich von mir
selbst abzulösen.“
Sie sieht zu den anderen Frauen herüber, die gerade die Musikauswahl für
den Clip diskutieren. „Und ich erinnere mich in solchen Momenten daran,
dass es das Patriarchat in jeder Gesellschaft gibt, nur eben in
verschiedenen Formen. Dann sage ich mir: ‚Ok, es ist weder hier noch dort
perfekt. Ich tue eben alles dafür, das zu ändern.‘“
Ist es ihr Traum, die religiösen Sittsamkeitsgesetze zu ändern? Mery
schüttelt den Kopf: „Mit den meisten Gesetzen fühle ich mich recht wohl.
Nur das mit der Kopfbedeckung macht mir zu schaffen. Aber von einem Traum,
dies zu ändern, würde ich nicht sprechen. Da gibt es gerade Dringenderes.“
Für Rivka Vardi stellt sich eine andere Frage: Wie viel säkulare Welt kann
sie in ihre Sphären eindringen lassen, ohne dass sie sich um die Identität
ihre Schützlinge Sorgen machen muss?
Ihr Schützlinge, das sind die Studentinnen der Kunsthochschule
Oman-Bezalel. Ausschließlich strenggläubige Frauen können hier ihren
Bachelor in Kunst, Architektur und Visueller Kommunikation machen, etwas
über 200 junge Frauen sind es derzeit.
Gegründet hat Vardi das eigenwillige Kunstinstitut 2013, und brauchte dafür
einiges an Chuzpe. Denn das Institut ist eine Auskopplung der renommierten
israelischen Kunsthochschule Bezalel, bekannt für ihren säkularen,
kritisch-liberalen Geist. „Wie soll das gehen?“, habe der damalige
Bezalel-Rektor Arnon Zuckerman gefragt, als Vardi mit dem Vorschlag zu ihm
kam.
Vardi sitzt in ihrem Büro in einem industriell geprägten Teil von
Jerusalem, über ihren Haaren trägt, sie entsprechend den Regeln der
religiösen Sittsamkeit, eine Perücke. Die Direktorin von Oman-Bezalel ist
„religiös von Geburt“, wie sie es nennt – und wurde früh in ihrer
künstlerischen Begabung gefördert. Für die teuren privaten Zeichenstunden
musste sie die ultraorthodoxe Welt verlassen. Ein Studium in diesem Bereich
war ihr nicht möglich. „Ich wollte Kunst machen. Doch in der
ultraorthodoxen Welt gab es keinen Ort, an dem eine Frau sich auf diesem
Feld weiterentwickeln konnte“, erzählt sie. Also begann sie, dafür zu
kämpfen und macht den Traum, den sie selbst nicht leben konnte, heute für
junge haredische Frauen in Israel möglich.
Versteht sich eine Frau, die sich so sehr für die Horizonterweiterung
anderer Frauen engagiert, als Feministin? „Nein, als Feministin verstehe
ich mich nicht“, sagt sie. Ihre Erklärung bleibt schwammig. Wie einige
Frauen von Nivcharot hält auch sie den Begriff von sich fern. Ohnehin
erfährt sie auch von ultraorthodoxer Seite schon genug Gegenwind.
Einige Haredim sorgen sich, dass die Studentinnen unpassenden Inhalten
ausgesetzt werden. Es gilt der offizielle Lehrplan der Hochschule Bezalel;
auch die Dozent:innen kommen von dort und sind in der Regel säkular.
Dass junge Frauen Kontakt zu männlichen, säkularen Dozenten haben, ist bei
einigen Strenggläubigen ein Tabu.
## Frauen im Haushalt
Vardi zeigt auf ein Buch, das neben ihr liegt: „Warum es nicht gut ist, an
der Universität zu studieren“, geschrieben von einem ultraorthodoxen Rabbi.
Das Buch haben bis vor einigen Jahren viele der ultraorthodoxen Mädchen zum
Schulabschluss bekommen.
In der haredischen Welt sind die Frauen in der Regel für den
Lebensunterhalt zuständig, die Männer widmen sich ganztags dem
Thora-Studium. Allerdings sind diese Frauen zumeist im Niedriglohnsektor
tätig. Laut Angaben des israelischen Demokratieinstituts verdienen sie im
Schnitt 40 Prozent weniger als säkulare Israelis.
Doch auch wenn es normal ist, dass haredische Frauen arbeiten gehen – sich
selbst in der Kunst zu verwirklichen oder angesehene Architektin zu werden,
das war für sie bisher nicht vorgesehen. Dementsprechend sieht sich auch
Shira Summer, 23, als Pionierin. Sie hat gerade ihren Abschluss an der
Kunst-Uni gemacht. „Es ist unglaublich, was Rivka hier geschaffen hat“,
sagt sie, wickelt zwei kleine Tonfiguren aus und stellt sie auf den Tisch
vor sich. Für ihre Abschlussarbeit hat sie ein ganzes Regal solcher Figuren
angefertigt. Sie weiß um den Druck, der auf ihr und den anderen Frauen der
Kunsthochschule lastet. Sie kämpfen eine doppelte Schlacht: die um
Anerkennung in der ultraorthodoxen Welt, aber auch in der säkularen.
„Von säkularer Seite hören wir immer wieder, dass wir nicht professionell
seien, nicht das lernen könnten, was im allgemeinen Berufsleben benötigt
wird“, erzählt sie. Vielleicht geht es auch deswegen so anarchisch bei
ihren Skulpturen zu: Eine handtellergroße, weiße Kugel ist an einem
u-förmigen Eisenhaken befestigt. Eine andere besteht aus einer braunen,
zusammengeknüllten Masse, in die drei Zacken gespießt sind. Ein
Schlüsselanhänger hält sie zusätzlich zusammen: „Ich muss manchen Dingen
gerecht werden, aber die hier“, sagt sie und zeigt auf die Tonskulpturen,
„die lass' ich machen, was sie wollen“.
Beiden Welten gerecht zu werden, ohne sich selber dabei zu verlieren – es
ist eine enorme Anforderung für die jungen Studentinnen, aber auch für die
Direktorin der Kunsthochschule. „Manchmal mache ich vor Sorge in der Nacht
kein Auge zu“, sagt sie, aber dann hört man wieder ihr sanftes Lachen, das
auch den Studentinnen das Gefühl geben dürfte, hier in guten Händen zu
sein.
Um den Herausforderungen gerecht zu werden, hat das Kunstinstitut
Vorkehrungen getroffen und kooperiert mit einem Rabbi. Wenn Vardi, die
Studentinnen oder Dozent:innen unsicher sind, etwa, ob eine Illustration
im Unterricht gezeigt werden kann, fragen sie ihn. Häufig sei dieser
kulanter als sie es gewesen wären, hört man von den Studentinnen.
Auch die Bibliothek ist an die Besonderheiten des Ortes angepasst. Die
Bibliothekarin Leah Basak holt einen Kunstband aus dem Regal, blättert
darin und tippt auf einen weißen Aufkleber: „Ich weiß nicht, was sich
darunter befindet, die Aufkleber gehen nicht mehr ab. Aber irgendwas war
hier, was wir als nicht angemessen empfunden haben.“
Basak möchte den Frauen, die hier studieren, einen möglichst unbegrenzten
Zugang zur Kunst ermöglichen. Das bedeutet für sie auch: alles, was nicht
angemessen für die ultraorthodoxe Welt scheint, abzukleben. Teile von
Bildern und Zeichnungen, manchmal auch ganze Seiten. Sie mag das Wort
Zensur nicht sehr, sie spricht meistens von Hatama – auf Deutsch:
Anpassung.
## Eine simple Aufgabe
Am Anfang, erzählt sie, schien ihr die Aufgabe simpel: Christliche Symbole
würde sie abdecken, genauso wie nackte Menschen. Doch bald merkte sie, dass
es viele Graustufen gibt. „Wenn es etwas Eindeutiges ist, klebe ich es
natürlich ab. Aber wenn es eher Zeichnungen sind oder Kubismus, dann lasse
ich es.“
Anders als Direktorin Vardi hält Nomi Geiger die Kunsthochschule
Oman-Bezalel für einen feministischen Ort. Die Grafikdesignerin, die sich
als säkular bezeichnet, unterrichtet sowohl an der großen Kunstakademie
Bezalel als auch an ihrem ultraorthodoxen Ableger. „Ich weiß, dass das Wort
‚Feminismus‘ vielleicht nicht zu Rivkas Weltsicht passt“, sagt sie in ihr…
Studio im Süden Tel Avivs. „Und ich meine das nicht respektlos, sondern
sehr positiv: Für mich sind die feministischen Werte dort verwirklicht.“
Zwar werde die traditionelle Rollenverteilung dort nicht infrage gestellt.
Und doch: „Oman-Bezalel baut für die hohe Mehrfachbelastung, unter der die
jungen Studentinnen stehen, ein Unterstützungssystem auf“, sagt Geiger.
„Das ist in meinen Augen feministisch.“
Vielleicht ist es zu früh, von einer Revolution in der haredischen
Gesellschaft zu sprechen, aber dass immer mehr ultraorthodoxe Frauen
aufbegehren, daran haben weder die Frauen von Oman-Bezalel, noch von
Nivcharot Zweifel.
„Als wir einmal mit unserer Gründerin im Auto gefahren sind, habe ich zu
ihr gesagt: ‚Fahr bloß langsam, wir sind hier fünf Feministinnen, das sind
so ziemlich alle Feministinnen der haredischen Welt. Wenn uns etwas
passiert, dann gibt es keinen haredischen Feminismus mehr.‘ Aber heute
sind wir überall. Man kann uns nicht mehr ignorieren“, sagt Hila Hassan
Lefkowitz, die Aktivistin von Nivcharot. Dann setzt sie sich hinters Steuer
und fährt los.
15 Aug 2022
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## AUTOREN
Judith Poppe
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Ultraorthodoxe
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Feminismus
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