# taz.de -- Roman über Kunst und Konsumkultur: Die Wehr gegen alles Neue | |
> Der US-amerikanischen Schriftstellerin Emily Segal gelingt in ihrem | |
> Debütroman „Rückläufiger Merkur“ ein Sittenbild der New Economy. | |
Bild: Emily Segal | |
„Was, wenn das alles für die Katz ist?“, fragt sich die | |
Literaturwissenschaftlerin und Künstlerin Emily Segal bei einem ihrer | |
Praktika, als sie aus aktuellen Trends virale Werbestrategien für große | |
Konzerne machen soll. Ja, was passiert denn, wenn man als Angehörige des | |
kreativen Prekariats die Reichen immer reicher machen und selbst arm, aber | |
sexy bleiben soll? Was tun, wenn einem das aufs Gemüt fällt? | |
Dann helfen vielleicht Benzos und Amphetamine, Gras und Koks, Glamour und | |
schneller Sex – je nachdem, was in den Hipsterhöhlen und Industrielofts | |
der digitalen Kreativbranche von New York gereicht wird. | |
Genau dort spielt „Rückläufiger Merkur“, der autofiktionale Roman der | |
Künstlerin und Autorin Emily Segal. Darin wird ihr gleichnamiges Alter Ego | |
als frisch gebackene Uniabsolventin von den aufstrebenden Gründern eines | |
ominösen Tech-Unternehmens als Marketingexpertin engagiert. Ihr Job ist es, | |
„das Statement der Firma auszuarbeiten“ und „ihr ein Gesicht zu geben“, | |
sprich, die Marke zu entwickeln. | |
Für eine Berufsanfängerin eine überaus reizvolle Aufgabe, würde sie nicht | |
bald feststellen, dass es zwar millionenschwere Investoren, aber keine | |
Vision gibt. „Es hatte etwas damit zu tun, das gesamte Internet mit einer | |
Meta-Schicht aus der Sprache zu bestreichen wie ein Sandwich“, wird die | |
Unternehmensmission kryptisch umschrieben. | |
## Trendanalysen für große Marken | |
Emily Segal ist 1988 in New York geboren und dort aufgewachsen. Mit Anfang | |
zwanzig gründete sie mit anderen Künstler:innen das Kollektiv K-Hole, | |
das für große Marken alternative Trendanalysen anfertigte. Wenn in ihrem | |
Roman Sätze wie „Ein PDF für eine Million Dollar wird auf den Desktop eines | |
Kunden geschoben und nie wieder gesehen“ auftauchen, kann man das als echte | |
Erfahrung lesen. | |
Überhaupt tauchen im Roman einige autobiografische Elemente auf, neben | |
K-Hole auch [1][„Normcore“, der erfolgreichste Trend], den das Kollektiv | |
ausgelöst hat. Er propagiert, dass das Individuum Freiheit gerade darin | |
findet, nicht besonders sein zu müssen. [2][Fast Fashion] setzt genau auf | |
dieses Prinzip. | |
Segal setzt sich seit Jahren mit den Zusammenhängen von Kunst, Kapitalismus | |
und Konsumkultur auseinander. Ihre Erzählung ist ein Substrat ihrer | |
Erkenntnisse über die krude Wirklichkeit in der New Economy. Um diese zu | |
entlarven, greift sie auf das vielleicht passgenaueste Instrument zurück, | |
das man für diese ebenso absurde wie seelenentleerte Branche wählen kann – | |
die Pseudowissenschaften. | |
## Allgegenwart der Krise | |
Entsprechend tummeln sich im Roman esoterische Heilsbringer:innen, die | |
den selbstverlorenen (Neben-)Figuren mit Gebetsketten, Kabbalakursen und | |
Astraltherapien den vermeintlichen Weg aus der Krise aufzeigen. | |
Denn die Krise ist allgegenwärtig. Das titelgebende Phänomen – eine | |
optische Täuschung, bei der sich der Planet Merkur, benannt nach dem | |
römischen Gott der Händler, scheinbar rückwärts bewegt – wird hier zur | |
gesellschaftlichen Depression umgedeutet. Demnach befindet sich die | |
informations- und wissensbasierte Wirtschaft (Merkur) in einem krisenhaften | |
Zustand, in dem sie sich gegen alles Neue wehrt und dem Alten zuwendet, | |
also rückläufig ist. | |
Das ist zwar inhaltsleer, eine in die Zukunft gerichtete Branche muss | |
dennoch dagegen vorgehen. Und die Erzählerin fragt sich ironisch, ob sie | |
sich trollen und gleichzeitig an das glauben konnte, was sie in Meetings | |
und Briefings predigte. | |
Segal lässt in „Rückläufiger Merkur“ die Luft aus der transzendenten Bla… | |
dieser mit Geld und Eitelkeit aufgepumpten Kunstwelt, in der anonyme | |
Investoren unausgegorene Ideen finanzieren, die in vieldeutigen Happenings | |
in aller Welt zu Ereignissen hochgejazzt werden. Dass sie dabei Klischees | |
bedient, sei geschenkt, denn in dieser nihilistischen Schimäre des | |
Optimalen ist für Differenzierung kein Platz. | |
Allerdings leidet die Handlung unter dem pseudointellektuellen Slang der | |
Erzählerin, der auch in der gelungenen Übersetzung von Cornelia Röser | |
durchdringt. Vielleicht ist das am Ende aber auch Absicht und die Handlung | |
besteht aus dem gleichen Element wie die Welt, die sie beschreibt. Aus | |
Nichts. | |
16 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Hummitzsch | |
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