# taz.de -- Charango-Virtuose über Traditionsmix: „Nicht auf einen Stil fest… | |
> Die Musiktage im niedersächsischen Freden porträtieren den argentinischen | |
> Charango-Virtuosen Diego Jascalevich. Er mischt gern die | |
> Musiktraditionen. | |
Bild: Auftritt am rustikalen Ort: die Camerata Freden, die Diego Jascalevich be… | |
taz: Herr Jascalevich, wann haben Sie zum ersten Mal ein Charango gesehen? | |
Diego Jascalevich: Ich war sehr klein, vier oder fünf Jahre alt. Das | |
Charango wird weniger in Buenos Aires gespielt, wo ich aufwuchs, als | |
vielmehr im Norden Argentiniens, an der Grenze zu Bolivien in den Anden. | |
Dort, in einer Kirche, hab ich eine von Musik begleitete Prozession | |
gesehen, und unter den Instrumenten war auch ein Charango. Als | |
Zupfinstrument war es mir nicht fremd, denn ich konnte schon ein bisschen | |
Gitarre spielen. Bei uns zu Hause gab es viele Gitarren, denn einer meiner | |
Brüder ist Gitarrist. Er hat mir auch die ersten Akkorde beigebracht. Mit | |
sechs oder sieben Jahren bekam ich dann mein erstes Charango. Da es der | |
Gitarre ähnelt, fiel mir der Wechsel nicht schwer. | |
Warum wurde es Ihr Lebensinhalt? | |
Ich weiß es nicht genau. Aber ich habe an jeden Tag mehre Stunden gespielt, | |
es war wie ein Obsession. Ich habe als Kind praktisch nur Musik gemacht. | |
Wer war Ihr Lehrer? | |
Mein Bruder hat mir die ersten Akkorde gezeigt, den Rest habe ich mir | |
selbst beigebracht. | |
Mit 17 sind Sie nach Brasilien geflohen. Warum? | |
1982 – im letzten Jahr der [1][argentinischen Militärdiktatur] – brach der | |
Krieg mit England um die Islas Malvinas beziehungsweise Falklandinseln aus. | |
Alle in unserer Familie waren Pazifisten. Als die Regierung den Jahrgang | |
1963 zum Militär einzog, bekam meine Mutter Angst. Ich bin Jahrgang 1965, | |
und sie sagte, ich solle nach Brasilien gehen, bis der Krieg vorüber wäre. | |
Auch musikalisch kam mir das gelegen: Die dortige Musik hat mich | |
fasziniert, die brasilianischen Rhythmen sind meine zweite Leidenschaft. | |
Sie flohen allein? | |
Ja. Ich ging in den Bundesstaat Bahia. Dort wohnte eine Freundin unserer | |
Familie, die mir half. Nach ein paar Monaten war der Krieg vorbei, ich | |
konnte wieder nach Argentinien. Ein paar Jahre bin ich zwischen beiden | |
Ländern gependelt und später in Italien gelandet. | |
Wovon haben Sie während des Pendelns gelebt? | |
Vom Musizieren. In Brasilien habe ich viel in Kneipen, Bars, Kleinen | |
Theatern gespielt, viele Freunde gefunden. Ich verdiente nicht viel, aber | |
es genügte. Bahia ist eine arme Gegend. Die Leute kommen mit sehr wenig | |
Geld aus, und ich habe diesen Lebensrhythmus gut verstanden und mitgemacht. | |
Es war eine schöne Zeit, locker und frei. | |
Was unterscheidet brasilianische von argentinischer Musik? | |
Zusätzlich zu den Harmonien der – von spanischen und portugiesischen | |
Kolonisatoren mitgebrachten – Barocktänze und der Kirchenmusik hat die | |
brasilianische Musik afrikanische Rhythmen; eingeführt durch die | |
Versklavten, die auf den Plantagen arbeiten mussten. | |
Und wie landete das Charango in Südamerika? | |
Die europäischen Kolonisatoren brachten ein Vorläuferinstrument mit, die | |
Vihuela del Mano, ein lautenartiges Zupfinstrument aus Holz. Die Indios | |
haben es adaptiert, den Resonanzkörper aber aus dem Panzer des Gürteltiers | |
hergestellt. Denn hoch oben in den Anden gab es nicht genug Bäume, um | |
Instrumente daraus zu bauen. Und der Panzer des Gürteltiers – eine | |
Delikatesse in der Gegend – war ohnehin übrig. Heute ist das verboten, weil | |
das Gürteltier vom Aussterben bedroht ist, und das Charango wird aus Holz | |
hergestellt. Das klingt weniger dumpf und ein bisschen feiner. | |
Besitzen Sie noch Gürteltier-Charangos? | |
Ja, ich habe einige alte Instrumente. Ich bekomme manchmal Charangos | |
geschenkt oder zum Kauf angeboten. Ich kann dann nicht widerstehen. | |
Inzwischen müssten es zehn oder 20 sein. | |
Auf welchem spielen Sie? | |
Eins ist mein bester Freund, das nutze ich als Soloinstrument, die anderen | |
zur Begleitung. Aber worauf ich spiele, hängt auch von meiner Stimmung ab. | |
Welche musikalischen Stimmungen haben Sie denn in Italien aufgenommen? | |
Ich habe dort viel mit Jazzmusikern gespielt. Auch neapolitanische Musik | |
finde ich interessant: Die Tarantella-Tänze tragen europäische, arabische, | |
afrikanische Elemente in sich, da mischen sich die Traditionen wie auch | |
beim Flamenco. Leider war ich nie lange genug in Spanien, um richtig | |
Flamenco spielen zu lernen. | |
Ist das Charango fürs Flamencospiel geeignet? | |
Ja, das wäre eben mein Flamenco. Genauso geeignet finde ich es zum Beispiel | |
für Tango. Darüber streite ich gerade mit einigen argentinischen | |
Tango-Musikern. Sie sagen, das Charango sei kein Tango-Instrument. Aber ich | |
spiele viel Tango, allein und mit erfahrenen Musikern, das ist doch der | |
Beweis. Ich begrenze ein Instrument doch nicht auf einen Stil! Das fände | |
ich erniedrigend. | |
Aber eigentlich ist das Charango ein Volksmusikinstrument. | |
Ja, ursprünglich. Ich habe ja auch eine Zeit lang traditionelle Musik | |
darauf gespielt. Aber irgendwann wurde mir das zu langweilig. Ich finde | |
nicht, dass ein Instrument in seiner Tradition gefangen bleiben muss. Es | |
kann sich weiterentwickeln, man kann Stücke, Genres, Stile mischen. Wenn | |
ich ein traditionelles Stück aus Argentinien spiele, verändere ich es | |
manchmal, wie es vielleicht [2][Paco de Lucia] getan hätte. Die Mischung | |
verleugnet ja nicht die Tradition. Sie verändert sie und hält sie lebendig. | |
Auch genetisch bin ich ja eine Mischung. | |
Inwiefern? | |
Ich bin zu je einem Viertel Rumäne, Ukrainer, Indio und Baske. Mein Ur-Opa | |
kam um 1870/80 aus Rumänien nach Argentinien, wo noch mein Opa geboren | |
wurde. Meine Oma väterlicherseits kommt aus der Ukraine. Mein Opa und meine | |
Oma haben sich dann in Argentinien kennengelernt. Mit einem | |
Philosophie-Promotionsstipendium meines Opas gingen sie nach New York, wo | |
mein Vater geboren wurde, und kehrten in den 1930er-Jahren zurück nach | |
Argentinien. Meine Mutter wiederum stammt von baskischen | |
Argentinien-Einwanderern und Ureinwohnern ab. Mein Opa hatte das typische | |
flache Gesicht eines Indios. | |
Warum sind Sie 1995 dann von der Weltstadt Rom nach Kassel gezogen? | |
Ursprünglich der Liebe wegen. Ich habe dann an der Musikakademie meinen | |
Abschluss als Gitarrenlehrer und in Komposition gemacht und lebe jetzt als | |
freischaffender Lehrer und Komponist und mache Musikprojekte. Wobei ich | |
mich nach wie vor am liebsten mit Leuten aus anderen Traditionen mische – | |
sei es türkische, Sufi-, afrikanische, japanische Musik. Seit elf Jahren | |
musiziere ich zum Beispiel mit einer japanischen Koto-Spielerin. Die Koto | |
ist eine Art Zither. Und für den WDR haben wir vor Jahren ein Konzert mit | |
Charango, Koto und [3][Kora] aufgenommen, einem senegalesischen | |
Zupfinstrument. Das ist ja das Spannende an der Mischung: herauszufinden, | |
wie man gemeinsam einen neuen, nie gehörten Klang erzeugen kann. | |
Und welche Mischung findet sich in Ihrem Auftragswerk für die Fredener | |
Musiktage? | |
Die „Acuarelas latinas“ … | |
… lateinamerikanische Aquarelle … | |
für Charango, Streichquartett, Kontrabass und Schlagzeug, sind drei Stücke | |
in drei Rhythmen: Den Anfang macht die Cumbia – ein Tanzrhythmus aus | |
Kolumbien, der in ganz Südamerika gespielt wird. Es folgt ein langsamer | |
Walzer; ein melancholisches Stück, das ich zu Beginn des Ukraine-Kriegs | |
geschrieben habe. Zum Schluss erklingt eine Chacarera – ein Tanzrhythmus | |
aus Santiago de Estero im Nordwesten Argentiniens. Es ist eine Mischung aus | |
europäischer und afrikanischer Musik. Sie stammt ursprünglich von den | |
[4][Versklavten,] die in der Kolonialzeit im Hafen von Peru arbeiten | |
mussten, und kam später auch nach Argentinien. | |
29 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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