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# taz.de -- Besatzungsmuseum in Berlin: Selbstzufrieden, den Blick verengt
> Das Deutsche Historische Museum macht Vorschläge für das geplante
> Besatzungsmuseum. Es fehlen ganze Ethnien und der Blick auf die stillen
> Mittäter.
Bild: September 1939, Beginn einer folgenschweren Besatzung: Die Wehrmacht mars…
Die deutsche Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist in
der Fläche präsent – von Stolpersteinen über ehemalige Lager bis hin zu den
zentralen Berliner Gedenkstätten. Diese Sichtbarkeit im Alltag ist eine
ihrer größten Stärken. Leerstellen gibt es trotzdem, vor allem bei den
Millionen nichtdeutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs. Nach langem Hin und
Her beschloss der Bundestag deshalb 2020, einen „Ort des Erinnerns und der
Begegnung mit Polen“ sowie ein Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und
deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ zu errichten, die beide in der
Hauptstadt entstehen sollen. Sie werden innerhalb der
Gedenkstättenkonzeption des Bundes realisiert, die als übergreifendes
Konzept zu verstehen ist. Für Ersteres übernahm das Auswärtige Amt die
Planung, mit Letzterem wurde überraschend [1][das Deutsche Historische
Museum (DHM) betraut,] wohl weil die Große Koalition die Unabhängigkeit der
Berliner Gedenkstätten fürchtete.
Der Bundestag hat die nun vorliegenden Entwürfe zunächst an seine
Ausschüsse überwiesen, da mehrere Fraktionen konzeptionelle Fragen
anmeldeten. Und das ist auch nachvollziehbar. Denn wo das Auswärtige Amt
sich für Polen vornehm-diplomatisch zurückhält und lediglich eine gute
Seite zu den möglichen Inhalten präsentiert, macht das DHM zum
Besatzungsmuseum Vorschläge, die bei geschätzten Investitionen von 134
Millionen Euro und einem Bau mit 15.000 Quadratmeter Fläche – gut ein
Viertel davon als Ausstellungsfläche – in jeder Hinsicht umfangreich sind.
Die schiere Dimension ist zu begrüßen, denn sie zeigt schon symbolisch,
dass Gedenken ernst zu nehmen ist. Auch die historische Komplexität mit
zahlreichen länderspezifischen Einzelfällen und ungezählten Toten erfordert
eine angemessene Größe, um Lernen aus und Auseinandersetzung mit der
Geschichte zu ermöglichen: Besatzung war die notwendige Vorbedingung für
die allermeisten Morde der Jahre 1939 bis 1945 – schließlich mussten die
Opfer zunächst einmal in den deutschen Machtbereich gelangen.
Jenseits der technischen und finanziellen Aspekte hat das DHM bei den
Inhalten allerdings der Mut verlassen. Nach einer allgemeinen Einführung in
die Besatzung benennt es neun Schwerpunkte. Doch fünf davon werden bereits
durch eigene Gedenkstätten und entsprechende Bildungsangebote in Berlin
abgedeckt: Für Zwangsarbeit gibt es das Dokumentationszentrum
NS-Zwangsarbeit in Schöneweide; die Ermordung von Patienten ist Gegenstand
des von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden betreuten
„Euthanasie“-Informationsorts in der Tiergartenstraße; dem Holocaust sind
neben dieser Stiftung, die auch zum Gedenkort für die ermordeten Sinti und
Roma entsprechende Bildungsangebote macht, außerdem die Topographie des
Terrors und das Haus der Wannsee-Konferenz gewidmet, wo genauso wie in
Sachsenhausen die verschiedensten Lagertypen thematisiert werden.
## Wettstreit um Erinnerung, Deutung und Besucher
So läuft das Konzept auf eine Konkurrenzveranstaltung hinaus, die
gedenkpolitisch nicht erwünscht sein kann: Das DHM will um Erinnerung,
Deutungen und Besucher wetteifern, anstatt eine Ergänzung und Erweiterung
der Gedenkstättenlandschaft zu bieten. Die auf gesellschaftliche
Initiativen zurückgehenden – und von der Zivilgesellschaft wesentlich
getragenen – Gedenkstätten werden vom nationalen deutschen Geschichtsmuseum
marginalisiert.
Selbstverständlich muss ein Besatzungsmuseum beispielsweise Zwangsarbeit
thematisieren und auch die Opfer der Shoah müssen ausführlich benannt
werden. Darüber hinaus aber erstaunen die Lücken, die für den Bundestag die
Ausgangsüberlegung darstellten. Das ist zuvorderst die sonstige,
gewissermaßen normale Zivilbevölkerung des besetzten Europas: die an den
verschiedensten Ethnien verübte Gewalt etwa in Polen, Griechenland,
Serbien, Belarus, Russland, Ukraine usw., die mit Millionen von Toten in
Summe die meisten Opfer zu beklagen hatten.
Für diese gigantischen Opfer gab es verschiedenste Todesursachen wie
beispielsweise Rassenkrieg, Hunger und Seuchen, „Bandenkampf“ – die
unterschiedslose Auslöschung von Dörfern zum angeblichen Zweck einer
Widerstandsbekämpfung –, Deportationen, „Germanisierung“ oder die Morde …
intellektuellen, politischen und religiösen Eliten. Doch diese hierzulande
kaum erinnerten und auch nicht mit eigenen Gedenkstätten bedachten Taten
werden im neuen Museum höchstens gestreift. Das gilt ebenso für
kriegsgefangene Soldaten – allein über 3 Millionen Rotarmisten starben in
deutscher Gefangenschaft –, die vor allem in der allgemeinen Einführung
benannt werden. Völlig ausgeblendet ist zudem, dass vor der Besatzung die
deutschen Angriffs- und Vernichtungskriege standen, die hier aber nicht
vorkommen. Allerdings trägt das geplante Museum das Wort „Krieg“ in seinem
Namen.
Auch die Frage nach den deutschen Besatzern und ihren Handlungen zwischen
aktiver Täterschaft, Profit, passiver Zustimmung und passiver wie aktiver
Ablehnung wird vom DHM nicht gestellt. Gerade das aber böte die
Möglichkeit, nach Handlungsspielräumen von Millionen von Menschen zu
fragen: etwa Eisenbahnern und Postlern, den Millionen von Soldaten der
Wehrmacht und auch Zivilisten und Zivilistinnen – Sekretärinnen der SS,
Krankenschwestern oder Kindergärtnerinnen bei der „Germanisierung“. Sie
alle spielten tragende und unverzichtbare Rollen bei der Okkupation, die
als gesamtgesellschaftliches Projekt zu verstehen ist. Eine
Auseinandersetzung mit dieser Täterschaft erfolgt bislang viel zu wenig und
ist nur zum kleinsten Teil Aufgabe der existierenden Gedenkstätten – aber
Pflicht und Kür eines Besatzungsmuseums.
## Die Unbequemlichkeit einer Gedenkstätte, die in Deutschland relevante
Fragen aufwirft
Wichtig wäre außerdem, die Alltags- und Sozialgeschichte der Besetzten
sowie deren genderabhängige Erfahrungen – nicht zuletzt sexuelle Gewalt,
der eine wichtige Rolle zukam – zu thematisieren. Aus der Okkupation
ergaben sich außerdem neue gesellschaftliche Stratifikationen,
innergesellschaftliche Konflikte und interethnische Gewalt der besetzten
Gesellschaften. Hierher gehören auch Fragen von Kollaboration, und es ist
durchaus bezeichnend, dass dieses Wort im Konzept nicht auftaucht und der
Sachverhalt stattdessen mit „Angebote und Zwang zur Beteiligung“
verschwiemelt wird. Wenn man das jedoch zusammen mit Widerstand darstellt
und dann das Verhalten der Deutschen danebenlegt, lassen sich ganz neue
Perspektiven für die historisch-politische Bildung eröffnen, die weit über
die veraltete Trias von Tätern, Opfern und Zuschauern hinausweisen.
Es sind derartige Leerstellen, die deutlich zeigen, dass das DHM die
vielschichtige und differenzierte internationale Forschungslandschaft zum
besetzten Europa im Zweiten Weltkrieg nur selektiv zur Kenntnis genommen
hat. Die Idee, ein eigenes Forschungsinstitut und ein Archiv innerhalb des
Dokumentationszentrums zu schaffen, ist weiterer Ausdruck davon.
Selbstverständlich muss es dort eine Bibliothek geben, und eine
wissenschaftliche Abteilung muss entsprechende Expertise und Kontakte
pflegen. Aber ein eigenes Forschungsprogramm mit ausländischen Stipendiaten
ist genauso wenig Kernkompetenz wie umfassende archivalische Sammlungen
oder Video-Testimonies – das gibt es in Berlin auch bereits und muss nicht
dupliziert werden. Aber das DHM ist beseelt vom Wettbewerbsgedanken und
möchte sogar ein „Forum Europäische Erinnerung“ etablieren, das anscheine…
in Konkurrenz zum bereits bestehenden Europäischen Netzwerk Erinnerung und
Solidarität treten soll.
Offen bleibt bei all dem außerdem das Verhältnis zur europäischen Museums-
und Gedenkstättenlandschaft, wo in jedem Land ein oder mehrere
offensichtliche Partner eines deutschen Besatzungsmuseums existieren: Für
internationale Wirkung und Akzeptanz wären gerade nichtdeutsche Museen und
auch nationale Perspektiven einzubeziehen – was natürlich nicht bedeutet,
sich diese immer zu eigen zu machen. Partnerschaft auf Augenhöhe heißt
indes, ungeliebte Sichtweisen zumindest verstehen zu wollen. Natürlich ist
das eine große Herausforderung, aber nur dann kann tatsächlich „das
besetzte Europa in seiner ganzen geographischen Breite und historischen
Unterschiedlichkeit“ erfasst werden, wie das der Bundestag wollte.
Stattdessen entwirft das DHM ein Museum über die bereits existierende
heutige deutsche Erinnerung an Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, und eben
nicht ein internationales Dokumentationszentrum zur Besatzung, [2][das von
der Ereignisgeschichte ausgeht]. Man fühlt sich an den im Ausland so oft
erhobenen Vorwurf erinnert, die Deutschen würden sich nur mit sich selbst
und dem Holocaust beschäftigen. Doch museale Selbstzufriedenheit und
Selbstbeschau brauchen wir gerade nicht, sondern die Unbequemlichkeit einer
Gedenkstätte, die in Deutschland gesellschaftlich relevante Fragen aufwirft
und diskutiert – ohne dabei den europäischen Partnern Lektionen darüber zu
erteilen, wie sie ihre Geschichte sehen sollen. Man darf gespannt sein, ob
sich der Bundestag dieser Intentionen noch besinnt oder am Ende doch nur
durchwinkt, was ihm vorgesetzt wurde.
Stratifikation
26 Jul 2022
## LINKS
[1] /Ausstellung-zu-Staatsbuergerschaften/!5865121
[2] /Essay-zum-Kriegsbeginn-vor-80-Jahren/!5619126
## AUTOREN
Stephan Lehnstaedt
## TAGS
Besatzung
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Museum
Kollaboration
NS-Gedenken
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Entschädigung
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