# taz.de -- Deutsche Abhängigkeit vom russischen Gas: Der nächste Winter kommt | |
> Im Frühjahr wollten viele auf Russlands Gas verzichten. Nun geht die | |
> Angst um. Während sich die Ampel bestätigt fühlt, werfen ihr Fachleute | |
> Fehler vor. | |
Bild: Gas-Embargo? Angesichts der hohen Inflation befürwortet das nur noch etw… | |
Wenn es um politische Stimmungen geht, können vier Monate eine lange Zeit | |
sein. Im März war der Krieg in der Ukraine noch keine drei Wochen alt und | |
die Debatte in Deutschland kreiste noch nicht um die Frage, ob Russland | |
wirklich wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1 schickt – sondern | |
darum, ob wir das russische Gas überhaupt noch wollen. Das ZDF holte für | |
das Politbarometer ein Meinungsbild ein und [1][das Ergebnis war klar]: 55 | |
Prozent der Befragten wollten ein Embargo, nur 39 Prozent waren dagegen. | |
Als einen Monat später das Forsa-Institut eine neue Umfrage durchführte, | |
hatte sich das Blatt schon gedreht: Nur noch 43 Prozent der Deutschen waren | |
jetzt für Sanktionen gegen russisches Gas. In der vergangenen Woche lag der | |
Wert dann nur noch bei 32 Prozent. Noch nicht einmal mehr bei den | |
Anhänger*innen der Grünen will eine Mehrheit auf russisches Gas | |
verzichten, obwohl sie doch weder zu Wladimir Putin noch zu fossilen | |
Rohstoffen einen ausgeprägten Hang haben. | |
Der nächste Winter kommt eben. Die Nachrichten aus dem Krieg klingen | |
mittlerweile gewohnt. Dafür spüren die Deutschen die Inflation. Und nachdem | |
Gazprom die Lieferungen erst drosselte und dann ganz unterbrach, sind die | |
Vorstellungen über ein Deutschland ohne russisches Gas plötzlich sehr | |
plastisch geworden. | |
„Es gab eine Reihe von namhaften Ökonomen und Ökonominnen, die gesagt | |
haben: Ach, so ein bisschen weniger Wachstum, das macht nichts“, sagte | |
Vizekanzler Robert Habeck vor Kurzem [2][im Deutschlandfunk]. „Jetzt, wo es | |
konkreter wird: großes Schweigen.“ | |
## Sie bleiben dabei | |
Genugtuung klingt auch beim Kanzler durch. Er sei überrascht, sagte er | |
neulich bei Maybrit Illner: Über all diejenigen, die noch vor ein paar | |
Wochen den sofortigen Importstopp forderten und sich jetzt darüber | |
beklagten, „dass es Konsequenzen geben könnte, wenn es so allmählich | |
weniger wird“. | |
Die Regierung fühlt sich in ihrem Kurs bestätigt: Keine abrupte Abkehr vom | |
russischen Gas, dafür Schritt für Schritt die Abhängigkeit reduzieren – um | |
irgendwann verzichten zu können. | |
Wer bei Wissenschaftler*innen, die im Frühjahr zu einem schnellen | |
Embargo rieten, um ein Gespräch bittet, erntet allerdings gar nicht so viel | |
Schweigen, wie von Habeck vermutet. Im Gegenteil, sie rufen alle recht | |
schnell zurück – und sind sich auch noch sehr einig. Trotz der Umfragen, | |
der Inflation, trotz der russischen Spielchen mit den Wartungsarbeiten an | |
der Nord-Stream-Pipeline oder gerade deswegen: An ihren Positionen halten | |
sie fest. | |
„Dass alles nicht so schlimm wird, hat nie jemand gesagt. Die Frage ist | |
nur, ob es einen kalten Entzug gibt oder ob wir uns vorher lange quälen“, | |
sagt Claudia Kemfert, Energieökonomin am Deutschen Institut für | |
Wirtschaftsforschung. Tatsächlich gingen von Beginn an alle | |
wissenschaftlichen Modelle davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt bei | |
einem sofortigen Energieboykott oder Lieferstopp sinkt. Umstritten war nur | |
das Ausmaß: Manche sprachen von 12 Prozent, andere von 0,5 bis 3 Prozent. | |
Kemfert selbst war an einer Studie beteiligt, die im April zu dem Ergebnis | |
kam: Wenn Deutschland so viel Energie wie möglich spare und außerhalb | |
Russlands so viel zusätzliches Gas wie möglich besorge, „ist die deutsche | |
Versorgung mit Erdgas auch ohne russische Importe im kommenden Winter | |
gesichert“. Die Produktion in einigen Industriebereichen müsse dafür | |
zurückgehen und betroffene Branchen entschädigt werden. Ein harter | |
Einschnitt, aber machbar. | |
„Viele Maßnahmen, die jetzt erst angeschoben werden, hätte man schon damals | |
ergreifen können. Hätten wir von Anfang an ein Gasembargo beschlossen, | |
hätten wir inzwischen mehr geschafft“, sagt Kemfert heute. | |
Der Regierung zugute hält sie zweierlei: Sie hat die Gasversorgung schon | |
jetzt diversifiziert, durch Flüssiggasterminals und Vereinbarungen mit | |
neuen Lieferanten, obgleich einige davon ebenfalls autokratisch regiert | |
sind. Statt zu 55 Prozent werden die deutschen Gaslieferungen laut | |
Bundesregierung zum Jahresende nur noch zu 30 Prozent aus Russland kommen. | |
Und: Die deutschen Gasspeicher sind mit über 60 Prozent mittlerweile | |
relativ gut gefüllt – zugegebenermaßen auch deshalb, weil weiter Gas aus | |
Russland floss. | |
Demgegenüber stünden aber die Versäumnisse. „Wir fangen erst jetzt an, beim | |
Verbrauch wirklich zu sparen“, sagt Kemfert. Zwar liegt der Rückgang beim | |
Gasverbrauch witterungsbereinigt schon bei 10 Prozent, unter anderem | |
deshalb, weil sich die Produktion angesichts hoher Preise für Unternehmen | |
zum Teil nicht mehr lohnt. | |
Gezielte Maßnahmen der Regierung, um schnell noch mehr einzusparen, kommen | |
aber erst jetzt – etwa ein Auktionsmodell, bei dem Betriebe fürs Gassparen | |
Prämien erhalten. Und erst an diesem Donnerstag kündigte Habeck an, dass | |
private Swimmingpools künftig nicht mehr mit Gas beheizt werden dürfen und | |
in Foyers von Bürogebäuden die Heizungen ausbleiben müssen. | |
Ein zweites Versäumnis: Beim Ausbau der erneuerbaren Energien hätte die | |
Politik nach Ansicht von Kemfert noch mehr Tempo machen können. „Es wäre | |
zum Beispiel möglich gewesen, die Genehmigungsverfahren so zu | |
beschleunigen, wie man es bei den Flüssiggasterminals gemacht hat“, sagt | |
sie. | |
Ähnlich klingt Rüdiger Bachmann, Professor für Wirtschaftswissenschaften an | |
der US-Universität Notre Dame: „Auf der Angebotsseite ist viel passiert, | |
die Speicher sind heute voller. Auf der Nachfrageseite wurde aber wertvolle | |
Anpassungszeit verloren.“ Strategisch sei man auf jeden Fall im Nachteil: | |
Die deutsche Abhängigkeit vom russischen Gas spiele der Kreml weiterhin | |
aus, zuletzt eben durch die Posse um die Wartungsarbeiten an Nord Stream. | |
Ob es da sinnvoll sein könnte, mit vier Monaten Verspätung doch noch | |
seitens der EU ein Embargo zu beschließen? „Die Frage stellt sich so | |
nicht“, sagt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Die | |
Bundesregierung hat ihren Plan ohne den Wirt gemacht. Aus russischer Sicht | |
ist es sinnvoll, das Gas als Instrument einzusetzen, solange man es noch | |
hat – und nicht erst, wenn Deutschland in zwei Jahren davon unabhängig | |
ist.“ Russland habe die Lieferungen schon vor den Wartungsarbeiten an der | |
Pipeline gedrosselt und werde sie auch jetzt nicht mehr voll hochfahren. | |
„Wir laufen wohl so oder so in die Gasknappheit im Winter rein. Man hat das | |
Heft des Handelns Russland überlassen und bei der Vorbereitung Zeit | |
verloren.“ | |
Etwas zugespitzter formuliert konzentriert sich in Berlin auch die | |
Opposition auf diesen Vorwurf. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen | |
[3][beklagt im Münchner Merkur], dass die Koalition bis heute keine | |
Einsparstrategie vorgelegt habe. Oppositionsführer Friedrich Merz forderte | |
in einem [4][Siebenpunkteplan in der Bild]: „Energiesparpläne in allen | |
öffentlichen Einrichtungen: Licht aus, Klimaanlage runter.“ Seine Forderung | |
aus dem März, Deutschland solle Nord Stream 1 selbst abstellen, wiederholt | |
er dagegen schon lange nicht mehr. | |
Damit ist er nicht allein: Wenn man sich bei Abgeordneten danach erkundigt, | |
wie sie ihre früheren Embargoforderungen sehen, stößt man auf weniger | |
Gesprächsbereitschaft als unter den Ökonom*innen. Eine von denen, die sich | |
doch äußert, ist die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Sie | |
klingt im Rückblick nachdenklich. | |
„Ich war kurzentschlossen für einen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas. Weil | |
ich es unerträglich fand und finde, dass Wladimir Putin auch nur einen Cent | |
an uns verdient. Wie groß die Abhängigkeit Deutschlands in den letzten zehn | |
Jahren von Russland geworden ist, war aber auch mir in dieser Dramatik | |
anfangs nicht klar“, sagt Strack-Zimmermann. | |
Auf Tempo drängt sie jetzt trotzdem. Es ergebe weiter Sinn, | |
„schnellstmöglich, aber kaskadenhaft auszusteigen. Schnellstmöglich ist für | |
mich hoch relevant, denn jeder Tag, an dem wir Gas von Russland beziehen, | |
ist ein Tag zu viel.“ Die aktuelle Situation zeigt ihrer Ansicht nach, dass | |
Putin zu schwach ist, das Gas von sich aus vollständig abzustellen. „Unser | |
Ziel muss nun sein, den Hahn unsererseits zuzudrehen und dabei die | |
Versorgung unserer Bevölkerung sicherzustellen.“ | |
Und bis es so weit ist? Es gibt Vorschläge für Maßnahmen unterhalb der | |
Schwelle eines vollen Embargos, sie liegen seit Monaten auf dem Tisch, | |
haben aber nicht die Unterstützung der Regierung. Einer davon: Strafzölle | |
auf russisches Gas. Ein anderer: Die EU-Staaten sollen sich beim Einkauf | |
von Energieträgern zusammentun, dadurch ihre Marktmacht vergrößern und die | |
Preise drücken – auf dem Weltmarkt und letztlich auch für Russland. Für | |
diesen Weg plädiert Anton Hofreiter. | |
„Deutschland sollte in Europa den gemeinsamen Einkauf von Erdöl und Gas | |
unterstützen und nicht weiter darauf beharren, dass dies nur freiwillig | |
geschehen soll. Das würde dazu führen, dass die Preise sinken und das | |
Regime Putin weniger verdient“, sagt der Grüne, der dem Europaausschuss im | |
Bundestag vorsitzt und seit Kriegsbeginn zu den lautesten Unterstützern der | |
Ukraine gehört. „Wenn man sich schon nicht zu einem Energie-Embargo | |
durchringen kann, begrenzt das zumindest die Gewinne Russlands und hilft | |
gleichzeitig, die Energiekosten in Europa zu reduzieren.“ | |
22 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-ukraine-russland-krie… | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/bundeswirtschaftsminister-robert-habeck-100.… | |
[3] https://www.merkur.de/politik/ukraine-russland-krieg-roettgen-deutschland-w… | |
[4] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/cdu-chef-friedrich-merz-u… | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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