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# taz.de -- Rimini Protokoll in Mannheim: Auf Wolkenkratzer schauen
> „Urban Nature“ von Rimini Protokoll in der Kunsthalle Mannheim blickt auf
> die Stadt und die Gegenwart sozialer Spaltungen.
Bild: Das Setting der Unterkunft für Wohnungslose in „Urban Nature“ von Ri…
In Städten leben 5,9 Milliarden Menschen von insgesamt 7,9 Milliarden,
erklärt uns der Umwelt- und Wirtschaftshistoriker Enric gleich zu Beginn in
der begehbaren Installation „Urban Nature“. Er selbst wohnt in Barcelona
und findet das bestens, Städte seien schließlich das perfekte Lebensmodell.
Schlimm hingegen seien die Vorstadthöllen (urban sprawls), in denen
Ressourcen verschleudert würden, weil dort alle mehr verbrauchen als in der
Stadt.
Enric ist einer von sieben Menschen, die in der neuesten Arbeit von Rimini
Protokoll Auskunft geben. „Urban Nature“, vor einem Jahr im Centre de
Cultura Contemporània de Barcelona uraufgeführt, ist jetzt in der
Kunsthalle Mannheim in Kooperation mit dem dortigen Nationaltheater zu
besichtigen.
Diese sieben firmieren als sogenannte Expert:innen des Alltags, die zu
den Arbeiten von Rimini Protokoll gehören wie hohe Häuser zu einer Stadt.
Sie sprechen über ihr Leben, ihren Beruf, ihren Alltag.
In „Urban Nature“ schaut das [1][Regiekollektiv, bestehend aus Helgard
Haug, Stefan Kaegie und Daniel Wetzel], von unterschiedlichen Warten auf
den Stadtraum und macht Perspektivwechsel möglich. Eine der Expertinnen ist
die junge Frau Siham. Ihr Freiheitshunger hat sie in die Stadt getrieben.
Im Alter von zwölf Jahren verlässt sie ihre Heimat Marokko in Richtung
Melilla, jene spanische Enklave im Norden Afrikas, die immer wieder mit
Bildern von Fluchtabwehr von sich reden macht.
Mittlerweile lebt Siham in Barcelona auf der Straße, zuerst nächtigt sie in
einer Unterkunft für Wohnungslose. Der Bühnenbildner Dominic Huber, der die
ebenso aufwändige wie liebevoll akkurate Szenografie verantwortet, hat eine
solche in den Ausstellungsraum gebaut. Eine Reihe von Stockbetten mit
zerknitterten Laken und bunten Bezügen zieht sich an der Wand entlang. Die
Besucher:innen fläzen sich in den unteren Etagen und erfahren per
Video, was Siham aus ihrem trostlosen Alltag in der Stadt berichtet.
## Mal eine Obdachlose, mal eine Chefin
Die Unterkunft bildet eine der sieben Stationen des lehrreichen Parcours
„Urban Nature“. Am Eingang kann man sich entscheiden, ob man lieber nur
zuhört und -schaut oder mit Tablet in der Hand mitspielt. Dann bekommt man
über Kopfhörer Anweisungen zugeflüstert, mimt mal eine Obdachlose, mal eine
Chefin, muss mal hierhin, mal dorthin gehen, schlüpft in die Rolle des
Gefängniswärters und in die der Geschäftsfrau. Man spielt Theater, während
die anderen die Stadtgesellschaft verkörpern.
Die Variante mit den Tablets eignet sich gut für Digital Natives und
solche, denen im Museum schnell langweilig wird. Alle anderen sind mit dem
Parcours ohne Tablet gut beraten. So oder so bewegt man sich – in
Kleingruppen aufgeteilt – wie ferngesteuert durch die sieben Räume und
besitzt so gut wie keinen Handlungsspielraum. Alles hat ein exaktes Timing
und läuft ab wie am Schnürchen. Dass man Teil einer Ausstellung oder eines
Stücks ist, vergisst man zu keinem Moment, von wegen immersiv. Selbst im
Bett besagter Unterkunft, neben einer fremden Besucherin liegend, taucht
man in keine andere Welt.
Doch während man Siham bei ihrem notdürftigen Leben zusieht, kann es
passieren, dass einem die eigene Privilegiertheit wie ein Kontrastmittel in
die Knochen kriecht. Auf Bildschirmen sieht man an den einzelnen Stationen
die handelnden und sprechenden Figuren aus Barcelona und vorherige
Besucher:innen. Dazu gesellen sich in der Ausstellung diejenigen, die mit
dem Tablet die Expert:innen des Alltags spielen. Etwa den Wärter
Christian, der im Gefängnis „Quatre Camins“ seinen Dienst tut.
Man erfährt, dass Spanien die höchste Zahl an Gefängnisinsassen gemessen an
der Einwohnerzahl aufweist, weswegen es in Barcelona folgerichtig war, dem
Thema eine eigene Station zu widmen. Für Mannheim ist es das allerdings
nicht. Selbiges gilt für die häusliche Marihuana-Plantage der
alleinerziehenden Grafik-Designerin Camila, denn die spanische
Cannabiskultur ist mit der deutschen nicht zu vergleichen. So wie Barcelona
und Mannheim allein größenmäßig schon nicht viel gemeinsam haben, was man
in der Kunsthalle an allen Ecken und Enden merkt, auch wenn sich generelle
Überlegungen, etwa zur Zukunft der Stadt und der Entwicklung von Smart
Cities übertragen lassen.
## Smash Hit „100% Stadt“
Rund 70 Minuten dauert der Rundgang, der zwar kein umwerfendes Erlebnis
sein mag, aber dafür einen guten Einblick in Arbeitsweisen und Themen des
erfolgreichen Kollektivs bietet. Die Art, wie „Urban Nature“ Barcelona aus
unterschiedlichen Winkeln in den Blick nimmt, erinnert an ihren vielerorts
absolvierten Smash Hit „100 % Stadt“, der die jeweilige Gesellschaft
unterhaltsam ausmisst. Die Stadt als Labor prägte auch schon ihre
Theater-Truckfahrt „Do’s and Don’ts“.
Der Besuch bei der Anlageberaterin gemahnt an die legendäre
„Hauptversammlung“ der Daimler AG, die zur Readymade-Performance von Rimini
Protokoll wurde. Und der Sarg als Symbol für den Zweitjob des
Gefängniswärters in „Urban Nature“ wirkt wie ein Zitat aus [2][dem
Theaterstück „Deadline“ (2003), von dem man so viel zum Thema Tod und
Sterben lernen konnte wie nirgends sonst]. Vor sechs Jahren luden Rimini
Protokoll dann in ein anderes Museum, die [3][Münchner Glyptothek („Top
Secret“) zu einer Art Schnitzeljagd zum Thema Überwachung].
Soziale Spaltungen bleiben ein wiederkehrendes Thema der Gruppe. Am
Konferenztisch der Finanzberaterin Calamanda in der 12. Etage heißt es in
„Urban Nature“, die Vogelperspektive zu besitzen, den Überblick über die
Stadt also, sei ein Zeichen der Macht. Nach sieben Stationen nehmen die
Besucher:innen auf Hockern Platz und genießen das Panorama auf Dominic
Hubers Stadt en miniature mit ihren Pappwolkenkratzern. Es ist der Blick
von oben, der Blick des privilegierten Publikums.
Sein eigentliches Potenzial entfaltet „Urban Nature“ aber erst draußen, in
der echten Stadt, in der man plötzlich wie durchs Museum schlendert. Sonst
routiniert ignorierte Bettler verdienen auf einmal Aufmerksamkeit,
Passanten agieren wie in einer Performance, und die alte Kinderfrage „Wem
gehört die Stadt?“ brennt unterm Asphalt. So gelingt es Rimini Protokoll
auch diesmal, unseren Blick zu schärfen. Wenn der öffentliche Raum zur
Bühne wird, ändert sich eben alles.
18 Jul 2022
## LINKS
[1] /20-Jahre-Dokutheater-von-Rimini-Protokoll/!5647527
[2] /Archiv-Suche/!673184&s=Rimini+Protokoll+Deadline&SuchRahmen=Print/
[3] /Rimini-Protokoll-in-Muenchner-Museum/!5362299
## AUTOREN
Shirin Sojitrawalla
## TAGS
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