# taz.de -- Vom Dorf an die Schanze: Klassenverrat mit Aussicht | |
> Unser Kleinstadt-Kolumnist hat seinen alten Kiez bereist und wäre fast | |
> wieder nicht ins Luxushotel gekommen. Die Polizei konnte diesmal nichts | |
> dafür. | |
Bild: Der Bauzaun ist heute zwar weg, aber irgendwie halt doch noch da: Mövenp… | |
Manche Geschichten lassen sich beim besten Willen nicht erzählen, ohne am | |
Ende dumm dazustehen. Ich weiß das, weil ich es diverse Male versucht habe | |
– und inzwischen bereits ins Schwitzen gerate, wenn sich jemand auch nur | |
beiläufig erkundigt, wie die Hamburgreise neulich war. Denn auch blumigste | |
Anekdoten über Zugausfälle und 9-Euro-Wahnsinn wollen einfach nicht so | |
recht zünden, wenn das Publikum erst verstanden hat, worum es bei diesem | |
Ausflug tatsächlich ging: um Klassenverrat nämlich. Meinen. | |
Zugegeben, etwas muffig roch die Unternehmung von Anfang an. Eine | |
„Stadtreise“ zu unternehmen wäre früher schließlich auch mir nicht in den | |
Sinn gekommen, obwohl ich’s natürlich ständig gemacht habe. Nach Berlin | |
etwa zum Theatertreffen, zum postautonomen Konferenzwesen nach Frankfurt | |
oder für Grünkohl nach Oldenburg. Nur ging es dann eben um Kunst, | |
Revolution und fettiges Essen, aber eben nie um die jeweiligen Städte. Und | |
so ändern sich die Dinge. Keine [1][drei Monate Landleben] hat es gedauert, | |
diese Gewichtung zu kassieren und das urbane Grundrauschen selbst als | |
Reiseziel anzupeilen. | |
Auch in Hamburg hatten wir gar nichts vor. Jegliches Programm wurde sogar | |
ausdrücklich vermieden, große Bögen wurden geschlagen um Schauspielhaus, | |
Szeneclubs und Konzerte – und übrigens auch um all die Freund:innen und | |
Bekannten, die uns ganz ohne Murren ihre Schlafsofas frei gerümpelt hätten. | |
Bezogen haben wir stattdessen das Hotel Mövenpick im Schanzenpark. Und wer | |
jetzt noch keine einsetzende Schnappatmung verspürt, muss sich das erklären | |
lassen. | |
Der historische Wasserturm mit Backsteinschick und Industriecharme ist ein | |
Wahrzeichen des linksalternativen Quartiers – das vor ein paar Jahren | |
eingezogene Luxushotel hingegen gilt größeren Teilen das Nachbarschaft als | |
Schandfleck. Schon der Bau war ein Politikum, weil Mövenpick im | |
Schanzenpark schwer nach Verdrängung klang. Es gab jedenfalls viel Protest | |
und mitunter auch [2][etwas heftigeren Krawall] drum herum. Auch meine | |
Versuche, die Baustelle aus der Nähe zu besichtigen, scheiterten damals an | |
gar nicht mal wenig Polizei, die strategisch günstig im Weg stand. | |
Wochenlang. | |
Obwohl die sich inzwischen weitgehend verzogen hat, ist es auch für | |
Ex-Hamburger Hamburgtourist:innen gar nicht so trivial, ins Hotel zu | |
kommen. Wer etwa aus alter Gewohnheit durch den Park zum Turm tingelt, | |
merkt spätestens nach eineinhalb Runden um die Anlage, dass sie gar keine | |
Tür hat. Jedenfalls keine, die sich öffnen lässt. Man muss dann ein paar | |
Minuten betont beiläufig warten, damit es nicht zu peinlich aussieht, und | |
wieder ganz runter vom Hügel – nur um dann unterirdisch wieder raufzufahren | |
ins Gewölbe. | |
## Der wenig diskrete Charme der Bourgeoisie | |
Ein paar Hundert Euro später ist drinnen alles wieder einfacher. Die Zimmer | |
sind schick und das Frühstück so zauberhaft wie die Szenerie grotesk: Vor | |
den breiten Fensterfronten des Restaurants schleicht ein Schanzenbewohner | |
mit Kutte, Bier und Hund vorbei. Nachts wummern die Bässe aus dem Park bis | |
hoch in den Turm. Raus geht hier heute keine:r mehr. Höchstens zum Taxi am | |
Fuß des Hügels. Verdrängung: vielleicht. Parallelwelten: ganz bestimmt. | |
Ich habe mich komischerweise [3][nie so weit weg] von meinem Stadtleben | |
gefühlt wie hier oben am Turmfenster. Dabei ist alles so greifbar nah: die | |
Party im Park, ein paar Dächer weiter die Rote Flora, irgendwo dahinter das | |
grabsteinförmige Krankenhaus, in dem ich mal gearbeitet habe. | |
Und warum das Ganze? Keine Ahnung. Für ein bisschen Koketterie in dieser | |
bestimmt nur vorübergehenden bourgeoisen Phase ist der Spaß jedenfalls zu | |
teuer. Aber es hilft beim Runterkommen, beim Wohlfühlen in der Kleinstadt – | |
aber auch beim verspäteten Abschied von Kiez und Lebensabschnitt. Und das | |
Frühstück ist auch wirklich nicht so schlecht. | |
17 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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