| # taz.de -- Autor Serhij Zhadan erhält Friedenspreis: Den Lebenden zuhören | |
| > Der Schriftsteller Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen | |
| > Buchhandels. Er schreibt aus dem kriegsbedrohten Charkiw. | |
| Bild: Serhij Zhadan erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| „Wir brauchen Waffen. Wir brauchen genauso die Berichterstattung. Auch das | |
| ist Unterstützung. So ist es sehr wichtig, dass die Ukraine in den | |
| deutschen Medien ihren Platz hat. Es ist dementsprechend wichtig, dass sie | |
| auf der Frankfurter Buchmesse ein Anlass zur Diskussion sein wird. Denn | |
| dort wird der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen“, schrieb | |
| [1][Serhij Zhadan] am Sonntag auf seiner Facebook-Seite, nachdem er | |
| erfahren hatte, dass er der Preisträger sein wird. | |
| Er wird ausgezeichnet „für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie | |
| seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet | |
| und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft“. | |
| Wie waghalsig es sein kann, sich öffentlich zu äußern, zeigt das aktuelle | |
| Beispiel der letztjährigen [2][Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga]: | |
| Sie hatte 2020 an regierungskritischen Protesten in ihrer Heimat Simbabwe | |
| teilgenommen, war kurzzeitig verhaftet worden und steht nun vor Gericht. | |
| Serhij Zhadans offizielle Facebook-Seite hat über 150.000 Follower. Seit | |
| Kriegsbeginn postet er täglich aus Charkiw, seiner Heimatstadt, Fotos, die | |
| er mit nüchternen, fast lakonischen Texten unterlegt. Zadan hat damit | |
| eigentlich eine neue literarische Gattung entwickelt, die Poesie und | |
| Überlebenswillen in der Extremsituation Krieg zusammenführt. | |
| ## Charme des postsowjetischen Proletariats | |
| So schreibt der Schriftsteller am 21. Juni: „Gestern Abend hat es stark | |
| geregnet. Einige starke Explosionen, es scheint in der Nähe zu sein, sind | |
| schwer zu orten in der Nacht. Und dann kommt der Nachtregen und es beruhigt | |
| sich. Der Morgen ist frisch, erfüllt vom Singen der Vögel und von Ferne | |
| hört man das Quietschen von Autoreifen. Wir haben zwei Autos vollgepackt | |
| und fahren zum Militärstützpunkt. Ich wünsche allen einen guten Morgen.“ | |
| Dazu gibt es ein Selfie mit ihm, drei ukrainischen Soldaten und einem | |
| grünen Versorgungsjeep. Er beschreibt am selben Tag, wie das Leben | |
| zurückkehrt in die Stadt: „Im Schewtschenko-Park küsst sich die Jugend | |
| etwas langweilig.“ Und wie er, der auch Musiker ist, mit seiner Band Hunde | |
| im Kosmos vor einer Armeeeinheit ein Konzert gibt. | |
| Dem deutschsprachigen Publikum ist der Schriftsteller Serhij Zhadan, der am | |
| 23. August 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk geboren wurde, seit fast | |
| zwanzig Jahren ein Begriff. Da beginnt der Suhrkamp Verlag, seine | |
| Erzählungen, Gedichte und Romane zu verlegen. Zhadan wird bald als eine der | |
| wichtigen intellektuellen Stimmen aus der Ukraine wahrgenommen. Dass er an | |
| der Charkiwer Universität Germanistik studiert hat, ist jetzt praktisch. | |
| Zhadans Antihelden sind oft männlich, prollig, trinken nicht wenig und | |
| gehen gleichzeitig mit einer Nonchalance durch die Welt, die so nur im | |
| postsowjetischen Osteuropa auftritt. Genau die braucht man, um im Chaos der | |
| Nachperestroika-Jahre nicht durchzudrehen. Diese wunderbar sich verhafteten | |
| Figuren treten auf in Romanen wie „Depeche Mode“ oder „Die Erfindung des | |
| Jazz im Donbass“. | |
| Die Beschreibung des rauen, diskreten Charmes des postsowjetischen | |
| Proletariats wird 2014 abgelöst durch die Darstellung des Kriegszustands in | |
| der Ostukraine. „Der Winter wird lange dauern. Alle werden sich daran | |
| gewöhnen, werden leiden und sich gewöhnen.“ | |
| Mit diesem Bild, das den Kriegszustand in der Ostukraine seit 2014 auf den | |
| Punkt bringt, beginnt Zhadans Roman „Internat“: Ein Lehrer gerät bei dem | |
| Versuch, seinen Neffen aus der unter Beschuss stehenden Stadt zu retten, | |
| zwischen die Fronten und findet sich in einer sonderbaren Welt wieder. Er | |
| wird mit der Frage konfrontiert, ob man im Krieg neutral bleiben kann. Das | |
| bisher letzte Buch des 47-Jährigen, das auf Deutsch erschienen ist, heißt | |
| „Antenne“. Die Überschrift des ersten „Gedichts“ darin lautet: „Das | |
| Telefonverzeichnis der Toten“. | |
| Dieses wird aktuell mit Andauern des Krieges immer länger. Wichtig ist und | |
| bleibt, den Stimmen der (Über-)Lebenden weiter zuzuhören. Serhij Zhadan ist | |
| eine von ihnen. | |
| 27 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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