| # taz.de -- Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen: Zu Tränen gerührt | |
| > Trotz Kritik von der Basis stimmen die NRW-Grüne für ein | |
| > Regierungsbündnis mit der CDU. Grenzenlos ist die Euphorie aber auch auf | |
| > dem Parteitag nicht. | |
| Bild: Erhielt standing ovations – designierte Super-Ministerin Mona Neubaur | |
| Bielefeld taz | Massive Kritik empfängt die Grünen, die in der Bielefelder | |
| Stadthalle das [1][erste schwarz-grüne Regierungsbündnis in | |
| Nordrhein-Westfalen] durchwinken sollen. Es demonstrieren nicht nur die | |
| Beschäftigten der landeseigenen Uni-Kliniken, die seit Wochen für | |
| Arbeitsbedingungen streiken, die nicht krank machen. Mit der Klimabewegung | |
| steht auch die Kernklientel der Grünen vor der Bielefelder Stadthalle. | |
| „1,5-Grad-Ziel einhalten“ und „Was ist an Grün noch grün?“ steht auf … | |
| Transparenten der Aktivist:innen, die einen sofortigen Stopp der | |
| Braunkohlebagger im Rheinischen Revier fordern. | |
| Der Koalitionsvertrag müsse „komplett neu verhandelt“ werden, findet etwa | |
| Thomas Müller-Schwefe, pensionierter Hausarzt und Umweltaktivist. Viel zu | |
| unverbindlich seien die Kompromisse, sagt er. „Die CDU zieht Euch über den | |
| Tisch“, warnt der 67-Jahre alte Waldschützer in einem Gespräch den grünen | |
| Kommunalpolitiker Felix Lüttke (35). „Eure Generation wird noch erleben, | |
| wie NRW zur Steppe wird.“ | |
| Tatsächlich fehlt in der selbstbewusst als „Zukunftsvertrag“ vermarkteten | |
| schwarz-grünen Einigung nicht nur jede Zeitangabe, bis wann das größte | |
| Bundesland mit seinen 18 Millionen Menschen wie versprochen „zur ersten | |
| klimaneutralen Industrieregion Europas“ werden soll. Auch bei der | |
| Reduzierung des Flächenverbrauchs fehlt ein Zieldatum – dabei werden in NRW | |
| jeden Tag 18 Fußballfelder zubetoniert. Und der Neubau von Landesstraßen | |
| soll zwar 2023 überprüft werden. Bis dahin aber sollen „die laufenden | |
| Projekte weiterbearbeitet“ werden. | |
| Der eigene Parteinachwuchs lehnt den Koalitionsvertrag entsprechend ab. Die | |
| Grüne Jugend kritisiert nicht nur, dass [2][das Dorf Lützerath den riesigen | |
| Baggern des Braunkohlekonzerns RWE] geopfert werden könnte. „Das ganze | |
| Kapitel Arbeit und Soziales ist maximal schwach“, sagt Landessprecher Rênas | |
| Sahin. Nicht nur eine Ausbildungsgarantie und Mieterschutz fehlten, ärgert | |
| sich der 20-Jährige. „Was passiert mit den Industriearbeiter:innen?“, fragt | |
| Sahin auch – schließlich bedroht die ökologische Transformation deren Jobs. | |
| In der Halle aber wird am Samstag schnell deutlich: Die Bedenken der Basis | |
| zählen wenig. Einmal mehr feiern die Grünen die starken 18,2 Prozent und | |
| damit die Regierungsbeteiligung, die sie bei der Landtagswahl am 15. Mai | |
| eingefahren haben. Die scheidende Landeschefin Mona Neubaur – designierte | |
| Super-Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klima, Energie – rühren die | |
| Delegierten mit Standing Ovations sogar zu Tränen. | |
| ## Union ohne Bedenken | |
| Als die 44-Jährige kurz darauf in ihrer Rede noch mal für Schwarz-Grün | |
| wirbt, haben die Christdemokraten den Koalitionsvertrag bereits abgenickt. | |
| Beim gleichzeitig laufenden CDU-Landesparteitag stimmen nur 4 von rund 580 | |
| Delegierten gegen das Bündnis mit den Grünen. Neubaurs neuer Duzfreund, | |
| CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst, der am Dienstag mit den Stimmen der | |
| Grünen im Amt bestätigt werden soll, hat also geliefert. | |
| Jetzt ist Neubaur dran: Um einen „Vertrauensvorschuss“ bittet die | |
| designierte stellvertretende Ministerpräsidentin. „In | |
| Regierungsverantwortung geht die Arbeit erst richtig los“, sagt sie. | |
| Natürlich könne diskutiert werden, ob im Koalitionsvertrag „genug von uns | |
| drin ist“. Draußen aber herrsche aber mit dem Ukraine-Krieg eine | |
| „knallharte Realität“. Schon wegen dessen Unwägbarkeiten habe die Einigung | |
| mit der CDU offen formuliert werden müssen, findet Neubaur – und verspricht | |
| den Ausbau der Erneuerbaren genauso wie mehr Chancengerechtigkeit und | |
| besseren Minderheitenschutz. | |
| Die Spitzen-Grüne weiß, dass ihr nicht wenige Delegierte vorwerfen, trotz | |
| der starken 18,2 Prozent zu schwach verhandelt zu haben. Umstritten ist | |
| besonders, dass sie der CDU den Bereich Landwirtschaft überlassen hat. Um | |
| das bisherige Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft und Naturschutz sei | |
| NRW „beneidet“ worden, klagt etwa die Sprecherin der grünen | |
| Landesarbeitsgemeinschaft Ökologie, Diana Hein. Jetzt werde die „Brücke | |
| zwischen Naturschutz und Landwirtschaft“ abgebrochen: „Schwarz-Grün bringt | |
| das jetzt zu Ende, indem das Ministerium zerschlagen wird.“ | |
| ## Ärger über Personalpolitik | |
| Der Koalitionsvertrag sei „säuerlicher Wein“, findet auch der Agrarexperte | |
| Norwich Rüße. Der 56-Jährige gehört zu den langjährigen Fachpolitikern der | |
| Landtagsfraktion, die von Neubaur enttäuscht wurden: Von den vier | |
| Ministerien, die die Grünen wie schon nach dem 12-Prozent-Ergebnis von 2010 | |
| besetzen dürfen, geht nur eines an eine Parlamentarierin. Die bisherige | |
| Co-Fraktionschefin Josefine Paul wird Familien- und Integrationsministerin. | |
| Neuer Justizminister soll dagegen der weithin unbekannte Benjamin Limbach | |
| werden. Der Sohn der einstigen Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, | |
| Jutta Limbach, war erst 2018 von der SPD zu den Grünen gewechselt. Für | |
| Umwelt, Naturschutz und Verkehr holt Neubaur den aus Düren bei Aachen | |
| stammenden Oliver Krischer aus Berlin zurück nach Düsseldorf: Noch ist | |
| Krischer Staatssekretär in Robert Habecks Wirtschaftsministerium. | |
| Enttäuscht ist deshalb auch der erfahrene verkehrspolitische Sprecher der | |
| Landtagsfraktion, Arndt Klocke. Die grüne Spitze um Neubaur sei ein | |
| ausgrenzender „Closed Shop“, ärgert sich der einstige Partei- und | |
| Fraktionschef, der seinen Kölner Wahlkreis mit satten 41,6 Prozent gewonnen | |
| hat. Praktiziert werde „eine Methode von Führung, die nicht zur offenen | |
| Kultur der Grünen passt“. | |
| Massiv Werbung für Schwarz-grün macht in Bielefeld dagegen Reiner Priggen, | |
| wie Klocke ehemaliger Partei- und Fraktionschef. Schon 30 Prozent Ablehnung | |
| könnten die neuen grünen Minister:innen massiv schwächen, fürchten | |
| Realos wie er. Wer dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen könne, solle | |
| während der Abstimmung doch einfach kurz vor die Tür gehen, rät der | |
| schwarz-grüne Vordenker Priggen den Delegierten. | |
| Und tatsächlich: Brüskieren wollen die NRW-Grünen Mona Neubaur, ihre seit | |
| der Landtagswahl unumstrittene Nummer 1, nicht. Mit 85 Prozent votieren 216 | |
| von 254 Delegierten für das Bündnis mit der CDU. „Jetzt dürft ihr noch Mal | |
| applaudieren“, ruft Neubaur danach am Ende ihrer Dankesrede. Standing | |
| Ovations folgen. | |
| 26 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Wyputta | |
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