# taz.de -- Rechtsextreme Bewegungen: Ära der Konterrevolution | |
> Radikalkonservative Freiheitsfeinde wie Putin machen sich daran, die | |
> Uhren der Welt zurückzudrehen. | |
Bild: Protest mit Kunstblut: Umweltaktivisten vor dem Obersten Gerichtshof am 3… | |
Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber | |
bei [1][Dracula], Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil | |
Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom | |
Weltuntergang: [2][Krieg in der Ukraine], Liveschaltung zum Massaker des | |
Tages. | |
Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: [3][Im Herbst kann das Gas | |
ausgehen]. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken | |
werden abgestellt. Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, | |
die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion | |
stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. | |
Womit wir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine | |
[4][globale Hungerkatastrophe. Trockenheit, Hitzewellen] schon im Juni, | |
Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten | |
der Städte kaum mehr auszuhalten ist. All das macht etwas mit uns. Ein | |
Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die | |
korrekten Begriffe. | |
Tief in die Psyche schleicht sich Panik, Gereiztheit und Hilflosigkeit ein. | |
Diese Angst lähmt, gerade in einer Zeit, in der man eigentlich handeln | |
müsste. All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära | |
der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und | |
konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die | |
in den letzten 50, 60 Jahren erkämpft worden sind. | |
## Eine Gegenrevolution, die vorangetrieben wird | |
Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe | |
ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer –, aber im | |
Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die nicht | |
einfach so geschieht, sondern die von Konterrevolutionären vorangetrieben | |
wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas | |
angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins | |
Wolkenkuckucksheim. | |
Konterrevolution also. Die vergangenen 50, 60 Jahre haben global durchaus | |
widersprüchliche Entwicklungen gebracht, mit allen Ambiguitäten: Das | |
Wachstum der Ungleichheiten in den reichen Ländern gehört genauso dazu wie | |
die Entwicklung von relativ wohlhabenden Mittelschichten in einst armen | |
Ländern, der ehemaligen Dritten Welt. Es gibt neue Ungerechtigkeiten und | |
ökonomischen Stress, zugleich aber auch den Aufstieg von Milliarden | |
Menschen aus bitterer Armut in neue Wohlstandslagen. | |
Das ist die ambivalente, ökonomische Seite des neoliberalen Kapitalismus. | |
Im Westen hatten wir seit den 1960er Jahren die Aufstiegskulturen der | |
sozialen Wohlfahrtsstaaten, aber auch massive Freiheitsgewinne. | |
Konformitätsdruck löste sich auf, einfach, weil die Lebenskulturen im | |
Alltag viel heterogener wurden und weil sich ein Liberalismus des „Leben | |
und leben lassen“ durchsetzte. Diversität ist in jeder möglichen Hinsicht | |
heute viel akzeptierter als noch vor 20 Jahren. | |
## Demokratien setzen sich durch | |
Frauenemanzipation, zunehmend gleiche Lebenschancen gehören zu diesen | |
Fortschritten, [5][liberalere Abtreibungsregelungen], und auch ein Konsens | |
darüber, dass bestimmte „Gewohnheiten“, die lange als normal angesehen | |
wurden, einfach nicht mehr gehen – diese ganze MeToo-Kiste, salopp gesagt. | |
Dazu: gleichgeschlechtliche Ehen und Partnerschaften (vor 15 Jahren nahezu | |
undenkbar) und eine selbstverständlichere Akzeptanz von ethnischer | |
Heterogenität. | |
Natürlich gibt es noch unendlich viel [6][Diskriminierung und Rassismus], | |
aber man muss nur Wertestudien des Jahres 1990 mit jenen aus jüngster Zeit | |
vergleichen, dann sieht man – da liegen überall Welten dazwischen. In Ost- | |
und Mitteleuropa setzten sich nach 1989 stabile (manchmal auch labile) | |
Demokratien durch. Weite Teile der Welt, nicht zuletzt Lateinamerika, | |
erlebten eine regelrechte Woge der Demokratisierung, gesellschaftlicher | |
Liberalisierung und Modernisierung. | |
Linke neigen ja dazu, diese Fortschritte zu übersehen, einige wegen einer | |
gewissen stalinoid-autoritären Schlagseite („ist doch nur bürgerliche | |
Demokratie“), häufiger aber auch wegen einer kritischen Grundmentalität. Da | |
man stets – und mit gutem Recht – den Status quo kritisiert, übersieht man | |
gelegentlich, dass es schon genug gibt, was auch wert ist, verteidigt zu | |
werden. | |
## Mit Gewalt die Uhr zurückdrehen | |
Es gibt politische Akteure, die fest entschlossen sind, die Uhr | |
zurückzudrehen. Wladimir Putin ist mit seinem Hohn über „Gayropa“ und den | |
dekadenten Westen, mit seinem Bild von „echten Männern“ und „echten Frau… | |
und seinem Prinzip der gefakten Demokratie zum Paten des rechten | |
Extremismus in aller Welt geworden wie hierzulande der „Alternative für | |
Putin“. Dazu gibt es ein paar doofe Linke, die ihn zum Widerstandskämpfer | |
gegen westlichen Neokolonialismus fantasieren. | |
Im [7][Obersten Gerichtshof der USA] sitzen seine Brüder im Geiste, die | |
dort von mehreren Präsidenten mit teuflischer Vorausschau platziert worden | |
sind. Entschiedene Konterrevolutionäre, die gerade das Recht auf Abtreibung | |
aushebelten. Die konservative Partei hat sich einem kriminellen Putschisten | |
ausgeliefert, der immer noch tun kann, was er will (in einer wehrhaften | |
Demokratie wäre er längst im Knast). | |
Das sind Radikale, die sich nicht mit dem behutsamen, konservativen Bremsen | |
des Wandels begnügen. Sie wollen die Uhr der Welt zurückdrehen, auch mit | |
Gewalt. Orbán, Salvini und auch Sebastian Kurz, sie alle sind Teil dieser | |
globalen konterrevolutionären Bewegung, so wie milliardenschwere | |
Technofaschisten wie Elon Musk und Peter Thiel. | |
Viel zu lange war im Grunde die weit verbreitete Deutung, dass diese | |
Regressionen hilflose Reaktionen auf einen säkularen Fortschritt seien, der | |
am Ende nicht aufhaltbar sei. So etwas wie Schmerzen des Übergangs, | |
Geburtswehen, die aber die Richtung der Entwicklung nicht infrage stellen. | |
Ärgerliche, aber zweitrangige Reaktionen auf den mächtigen Strom der | |
Geschichte. Das war falsch. Die globale Konterrevolution marschiert. Breite | |
Allianzen müssen sich ihr entgegenstellen. | |
7 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=e05Gz3C8IYk | |
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
[3] /Bundesregierung-ruft-Alarmstufe-aus/!5859879 | |
[4] /G7-Gipfel-in-Elmau/!5862858 | |
[5] /Abschaffung-von-Paragraf-219a/!5863365 | |
[6] /Schwerpunkt-Rassismus/!t5357160 | |
[7] /US-Gericht-zu-Schwangerschaftsabbruechen/!5863360 | |
## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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