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# taz.de -- Wahrheitskomission in Kolumbien: 30.000 Zeugen unendlichen Leids
> Kolumbiens Wahrheitskommission hat ihren lang erwarteten Abschlussbericht
> vorgestellt. Darin fordert sie tiefgreifende Veränderungen.
Bild: Padre Francisco de Roux (links) übergibt den Bericht der Wahrheitskommis…
Bogotá taz | „Es gibt eine Zukunft, wenn es Wahrheit gibt“ steht in großen
Lettern über der Fassade des Theaters Jorge Eliécer Gaitán im Zentrum von
Bogotá. Der linke Politiker, nach dem das Theater benannt ist, wurde wie so
viele Hoffnungsträger ermordet.
Drinnen sind die Ränge bis auf den letzten Platz belegt. Einer ist trotz
Einladung nicht gekommen. Kolumbiens Präsident Iván Duque hatte den Monate
im Voraus bekannten Termin abgesagt. Er weilt in Portugal bei einer
Ozean-Konferenz.
Als Padre Francisco de Roux, der Vorsitzende der Wahrheitskommission, auf
der Bühne die Absage erwähnt, ertönen Buhrufe. Als Roux den [1][frisch
gewählten Präsidenten Gustavo Petro] begrüßt, bricht Jubel aus. Als er die
künftige Vizepräsidentin Francia Márquez anspricht, gerät das Publikum
völlig aus dem Häuschen. Márquez ist Schwarz, Opfer des bewaffneten
Konflikts, Umweltschützerin und Aktivistin. Petro, vor Jahrzehnten
demobilisierter Guerillero, wird der erste linke Präsident Kolumbiens.
Die Wahrheitskommission hatte vier Jahre Zeit, Licht in das Grauen zu
bringen. 2016 schlossen der kolumbianische Staat unter Präsident Juan
Manuel Santos und die Farc-Guerilla nach mehr als 50 Jahren bewaffneten
Konflikts einen historischen Friedensvertrag. Am Konflikt waren auch
Paramilitärs und andere bewaffnete Gruppen beteiligt. Die
Wahrheitskommission soll die Wahrheit suchen, indem sie Menschen anhört –
und so die Gründe und Strukturen aufdecken, die in Kolumbien für
jahrzehntelanges Leid verantwortlich sind. Damit sich dieses nicht
wiederholt.
## „Die Liste ist endlos“
Padre Francisco de Roux gibt in seiner Rede Einblicke in das Grauen. Es ist
eine Horror-Tour durch die kollektive Landkarte des Schmerzes. Er spricht
von dem abgeschnittenen Kopf in El Salado, der verstümmelten Vagina in
Tierralta, durchgeschnittener Kehle im Catatumbo. Von Landminen zerfetzten
Soldaten, in Öfen verbrannten Leichen, Massengräbern. „Die Liste ist endlos
und der angesammelte Schmerz unerträglich.“ Trotzdem sei die Gesellschaft
abgestumpft. „Warum haben wir Tag für Tag die Massaker im Fernsehen gesehen
wie eine billige Seifenoper?“
Der Staat und seine Institutionen haben aktiv mitgemacht, vertuscht, die
Bürgerïnnen allein gelassen, erinnert Roux. Würden alle Opfer eine
Gedenkminute bekommen, müsste 17 Jahre Stille herrschen. 80 Prozent der
Opfer waren Zivilistïnnen. 450.600 Menschen sind mindestens ermordet
worden, hat die Wahrheitskommission mit der Sonderjustiz für den Frieden
und Datenspezialistïnnen der Human Rights Data Analysis Group ermittelt –
deutlich mehr als bisher bekannt.
Für ihre Arbeit reiste die Kommission, organisierte Tausende Treffen für
Zeugnisablegung und Begegnungen zur Versöhnung. Einige mussten sie absagen,
weil der bewaffnete Konflikt noch nicht beendet ist. Mehr als 30.000 Opfer
haben gesprochen. Als erste Wahrheitskommission [2][bindet sie das Exil
ein], setzt einen ethnischen und einen Fokus auf Geschlechtergerechtigkeit.
LGBTIQ+ ist ein Kapitel gewidmet.
Mit besonderer Spannung wurden die Empfehlungen erwartet, die am Dienstag
öffentlich wurden. Die allerwichtigste ist die Umsetzung des
Friedensabkommens – samt Fokus auf die Landbevölkerung. Darüber hinaus
empfiehlt die Kommission unter anderem eine radikale Änderung der
Drogenpolitik, vom Verbot zur einer „verantwortungsvollen rechtlichen
Regulierung“, um den Drogenhandel einzudämmen, der den Konflikt befeuert
hat.
## Der „War on Drugs“ sei gescheitert
Kolumbien solle sich dafür auch international einsetzen. Den „War on Drugs“
erklärt die Kommission für gescheitert. Die USA hatten diesen mit
Milliarden unterstützt – obwohl sie von den Menschenrechtsverletzungen der
kolumbianischen Armee, ihrer Zusammenarbeit mit Paramilitärs und
Drogenkartellen wussten, wie die [3][New York Times] am Dienstag in einem
Bericht schrieb, der auf deklassifizierten CIA-Dokumenten beruht.
Diese lagen auch der Wahrheitskommission vor. Sie fordert zudem eine
Stärkung der Justiz und den Umbau der Sicherheitsstruktur samt
Polizeireform und Abspaltung der Polizei aus dem Verteidigungsministerium.
Der künftige Präsident Petro nahm sichtlich bewegt die 100 Seiten
Empfehlungen entgegen. In einer bemerkenswerten Rede ging er auf die
Versöhnung ein: „In der Gesellschaft wird es immer Konflikte geben. Das ist
die Essenz des Menschen: Diversität, Unterschied. Aber Konflikt darf nicht
Synonym von Tod sein, sondern von Leben. Der Konflikt als Dialog erlaubt,
dass die Menschheit wächst, immer menschlicher wird.“
In Anspielung auf den Schriftsteller Gabriel García Márquez betonte er, wie
wichtig es sei, den Kreislauf der Rache zu durchbrechen. „Was wir trotzig
bekräftigen, ist, dass die Generationen von 200 Jahren Einsamkeit eine
zweite Chance haben unter diesem Erdenhimmel. Wir werden das Wirklichkeit
werden lassen!“, versprach er.
## 40.000 Menschen sollen den Livestream verfolgt haben
Der Bericht ist samt Multimediamaterial auf einer neuen
[4][Onlineplattform] zu finden. Er soll einmal 8.000 Seiten und 11 Kapitel
haben – bisher sind nur Bruchteile verfügbar.
40.000 Menschen sollen den Livestream der Veranstaltung verfolgt haben, die
mitten am Arbeitstag war. In vielen Städten und Dörfern waren Fotos mit
Motiven des Konflikts und der Versöhnung ausgestellt und trafen sich
Menschen für Aktionen. In den kommenden Tagen gibt es weitere Konzerte von
Künstlerïnnen, die sich für den Friedensprozess engagieren.
29 Jun 2022
## LINKS
[1] /Stichwahl-in-Kolumbien/!5861975
[2] /Farc-Guerilla-in-Kolumbien/!5728241
[3] https://www.nytimes.com/2022/06/28/world/americas/a-truth-commission-publis…
[4] https://www.comisiondelaverdad.co
## AUTOREN
Katharina Wojczenko
## TAGS
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