| # taz.de -- Mögliche Maßnahme für Rentenausgleich: Ein perfider Vorschlag | |
| > BDI-Chef Russwurm will die Wochenarbeitszeit verlängern, um Renten zu | |
| > sichern. Der Vorstoß ist aus der Zeit gefallen. Besser wäre eine | |
| > Umverteilung. | |
| Bild: Rentenausgleich durch erhöhte Wochenarbeitszeit auf 42 h – eine rückw… | |
| Europas Volkswirtschaften überaltern. Derzeit kommen in der EU nur noch | |
| drei Menschen im arbeitsfähigen Alter auf eine Person über 65, und das | |
| Verhältnis verschärft sich weiter. In Deutschland sind zudem die Jahrgänge | |
| im Alter zwischen 51 und 60 Jahren die mit Abstand geburtenstärksten. | |
| „Wenn die Babyboomer in Rente gehen, geht diesem Land massiv Arbeitskraft | |
| verloren, und schon heute fehlen uns an vielen Stellen Arbeitskräfte“, | |
| sagte jüngst Siegfried Russwurm, der Präsident des Bundesverbandes der | |
| Deutschen Industrie (BDI). Geht es nach Russwurm, soll Deutschland diesen | |
| Schwund mit einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden | |
| beantworten. | |
| Eine bemerkenswerte Forderung in einem der reichsten Länder einer Welt, die | |
| psychisch wie ökologisch an ihrer Überproduktivität krankt. Verschiedene | |
| nord- und westeuropäische Staaten prüfen die Einführung einer | |
| vier-Tage-Woche. Immer weiter auf Wachstum zu setzen, ist eine | |
| rückwärtsgewandte Reaktion. Auch weniger Menschen können aufgrund der hohen | |
| Produktivität in Deutschland genug Wohlstand produzieren. | |
| Die Befürchtung, es gäbe dann nicht mehr genügend arbeitende Menschen, die | |
| die Renten finanzieren, greift zu kurz. Ein höherer Bedarf ließe sich auch | |
| über eine höhere Besteuerung reicher Menschen lösen. Denn wenn es | |
| Deutschland an einem nicht mangelt, dann ist es Reichtum. Das Problem ist, | |
| [1][dass er sehr wenigen Menschen gehört]: Über zwei Drittel des deutschen | |
| Gesamtvermögens konzentrieren sich auf zehn Prozent der Bevölkerung, und | |
| über die Hälfte davon wiederum auf das reichste Prozent. | |
| ## Produktivität ist nicht das Problem | |
| Diese Verteilung ist es, die das Rentensystem gefährdet. Das Argument, eine | |
| Gesellschaft, in der immer mehr Menschen im Ruhestand seien und immer | |
| weniger arbeiteten, könne sich nur durch noch mehr Arbeit weiterhin | |
| versorgen, verliert seit Beginn der Industrialisierung vor über 150 Jahren | |
| mit jedem Tag an Gültigkeit. Industrieländer produzieren im 21. Jahrhundert | |
| bei Weitem genug, um alle ihre Einwohner auf einem hohen Standard zu | |
| versorgen, würden die Güter gerechter verteilt. | |
| Und auch der Fachkräftemangel wird durch eine Erhöhung der | |
| Wochenarbeitszeit nicht sinnvoll bekämpft. Fehlt es an | |
| [2][Handwerker*innen] und [3][Pfleger*innen], Ingenieur*innen | |
| und Wissenschaftler*innen, dann liegt das zunächst einmal nicht daran, dass | |
| es keine Menschen gibt, die die Berufe ausüben würden, sondern daran, dass | |
| sie zu unattraktiv sind. | |
| Die Lösung dafür sollte nicht sein, dass die bestehenden Fachkräfte noch | |
| mehr arbeiten, sondern Anreize, die die entsprechende Karrieren begehrter | |
| machen. Höhere Löhne im Handwerk, bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, | |
| eine Verlängerung der Bafög-Höchstdauer für Ingenieursstudiengänge, die | |
| kaum jemand in Regelstudienzeit schafft, und mehr unbefristete | |
| Arbeitsverträge an Universitäten wären nur einige Vorschläge. | |
| Vor diesem Hintergrund erscheint es perfide, arbeitende Menschen zu noch | |
| mehr Arbeit verdonnern zu wollen – der Vorschlag wirkt angesichts des | |
| riesigen Wohlstands wie aus einer anderen Zeit. | |
| 22 Jun 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Josa Zeitlinger | |
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