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# taz.de -- Nachwahlen in Großbritannien: Kind of Blue
> Zwei Wahlkreise verteidigen die Konservativen am 23. Juni. Dazu müssen
> sie den Spagat zwischen unterschiedlichen Wählenden schaffen.
Bild: Ein politischer Graben verläuft zwischen den Nachbarn in Tiverton
Honiton/Tiverton/Wakefield taz | „Ja, ich rede noch mit meinem Nachbarn –
trotz des Schildes“, gesteht Pat Perryman. Die 83- Jährige ist eine
Persönlichkeit in der südwestenglischen Marktstadt Honiton, da sie
Textilausbilderin in der traditionellen Spitzenkunst ist.
Dort, wo sie wohnt, neben dem ehemaligen Armenhaus der Stadt, steht etwas
Neues, womöglich Historisches: Ein großes quadratisches Schild in Orange.
„Liberal Democrats Winning Here!“ steht darauf – hier gewinnen die
Liberaldemokraten. Davor aber behauptet sich ein Schild in Blau, das
Perryman hat aufstellen lassen, mit den Worten: „Helen Hurford. Lasst uns
mit dem Job weitermachen“, und „Conservatives“. Auf einem Foto lächelt d…
eine Frau mit schulterlangen blonden Haaren vor ein paar Kühen.
Das ist Stadträtin Helen Hurford, hier aufgewachsen, ehemalige
Grundschuldirektorin und jetzt Inhaberin eines Kosmetikgeschäfts. In einer
Nachwahl am Donnerstag will sie den Wahlkreis „Tiverton and Honiton“ für
die Konservativen verteidigen.
Der Wahlkreis ist politisch tiefblau, Tiverton und Honiton sind alte
Wollhandel- und Marktstädte im ländlichen Devon, wo einige Dörfer sogar
noch in mittelalterlichem Großgrundbesitz sind und die Älteren ihren
Lebensabend an der kreideweißen Felsküste in Seebädern wie Seaton
verbringen.
## Der Wahlkreisabgeordnete schaute im Parlament Pornos
Kein Wunder also, dass sich hier 2019 der Konservative Neil Parish mühelos
mit 60,2 Prozent der Stimmen wählen lassen konnte. Keine andere Partei
holte mehr als 20 Prozent, die Liberaldemokrat:innen waren hinter
Labour Dritte mit 14,8 Prozent.
Aber am 30. April trat der konservative Wahlkreisabgeordnete Parish zurück,
nachdem man ihn zweimal dabei erwischt hatte, im Parlament [1][auf seinem
Smartphone Pornos zu gucken]. „Ich suchte nach dem Dominator, einer
Erntekombimaschine“, erklärte Parish zu dem Augenblick, als die Pornoshow
plötzlich auf seinem Telefon erschien, während er auf den grünen
Unterhausbänken saß. Weibliche Abgeordnete aus den eigenen Reihen schlugen
Alarm.
Dass Parish dafür gehen musste, sehen hier vor Ort viele ein, und doch
legen sie nahezu alle ein gutes Wort für den gefallenen Politiker ein.
Parish saß seit 2010 für diesen Wahlkreis im britischen Parlament. Der
32-jährige ehemalige Soldat Brian, der gerade seine Kinder in die Schule
gebracht hat, findet bei der Kaffeepause nur lobende Worte für Parish.
„Neal setzte sich für mich ein. Jetzt haben sie mir ein neues Kniegelenk
gegeben, obwohl andere sagten, ich müsste noch 15 Jahre warten.“
Doch die anderen in der Runde sprechen die [2][gestiegenen
Lebenshaltungskosten] an. Selbst bei der Lebensmitteltafel gäbe es weniger
als sonst. Alley, 45, die aufgrund einer Behinderung nicht mehr arbeiten
kann, will deshalb Labour wählen. „Die Labour-Kandidatin war die Einzige,
die bei uns anklopfte. Sie sagte, sie könne es nur versuchen, Menschen wie
uns zu helfen.“ Wenigstens habe sie die Wahrheit gesagt, merkt Alley an –
ein Wink mit dem Zaunpfahl auf Boris Johnson. Das idyllische Tiverton
beschreiben die Vier beim Kaffeekränzchen als heruntergekommen, wo niemand
auf soziale Probleme reagiere.
## „Wer sonst könnte diese Arbeit machen?“
So manche konservative Wähler:innen sind davon überzeugt, dass eventuell
mehr hinter den Pornoenthüllungen Neal Parishs steht. Die Fraktion habe
sich eines unbequemen Abgeordneten entledigt, glaubt der 76-jährige George.
Farmer Richard Bunning lobt Parish als jemanden, der sich „für die
Landwirtschaft gegen den eigenen Landwirtschaftsminister“ gestellt habe und
dafür abgesägt worden sei. Mit Hurford, die auf ihrem Wahlplakat vor Kühen
posiert, schickten die Konservativen nun hier eine Kandidatin ins Rennen,
die von Landwirtschaft keine Ahnung habe.
Auf der einzigen öffentlichen Wahlkampfdiskussion zwischen den Kandidaten
vermied Hurford auch auf Nachfrage eine direkte Kritik an Boris Johnson.
„Ich kann sagen, dass seine Absichten ernsthaft sind“, sagte sie zu einer
Frage zu [3][Partygate]. Als Reaktion wurde sie lautstark ausgebuht.
Doch Pat Perryman findet, dass Johnson „gute Arbeit unter schwierigen
Bedingungen“ geleistet habe. „Wer sonst könnte diese Arbeit machen?“ fra…
die 83-Jährige.
Wer von Boris Johnson hier genug hat, wählt nun LibDem, das bestätigten
zahlreiche Befragte der taz. Im Wahlkampfbüro der Liberaldemokraten hört
man von angereisten Parteiunterstützer:innen aus dem ganzen Land,
sogar von den Orkney-Inseln nördlich von Schottland.
## Seit 2010 warte man auf die Renovierung des Schulgebäudes
Perrymans Nachbar, der mit dem orangenen LibDem-Schild an der Mauer, ist
der 66 Jahre alte Martin English. Er habe das orangene Schild aufgestellt,
als das blaue bei der Nachbarin bereits stand, erzählt er. Doch English ist
kein eigentlicher LibDem-Anhänger. „Eigentlich bin ich als jemand aus der
1960er-Jugend, der damals Marx las, für Labour, und meine Frau ist für die
Grünen. Ich wähle LibDem, um so die Tories loszuwerden“. Manche sprechen
sogar von einem möglichen inoffiziellen Pakt, wo Labour sich hier etwas
zurückhalte, um den Liberalen zu helfen.
Landwirt Richard Bunning, einer der wenigen Labour-Mitglieder hier,
versteht das. „Die LibDems sind der weiteste Sprung, den man von Menschen,
die sonst konservativ wählen, erwarten kann“, glaubt er. Dass der
liberaldemokratische Kandidat Richard Foord einst Soldat war, könne ihm da
nur helfen, findet Bunning.
Bei der Podiumsdiskussion erhält Foord mehrmals Beifall, etwa als er
angibt, dass Johnson nicht das einzige Wahlkampfthema sei. So warte man
seit 2010 auf die Renovierung des Schulgebäudes.
Auch English sagt, dass er noch mit seiner Nachbarin redet. Man kennt sich
eben.
## Wie glaubwürdig ist jemand, der eigene Regeln bricht?
Ebenfalls am Donnerstag wird im Norden Englands ein neuer Abgeordneter
gesucht, nachdem ein weiterer Tory, [4][Imran Khan, am 3. Mai zurücktrat],
weil gegen ihn ein 15 Jahre zurückliegendes Sexualdelikt offengelegt wurde:
ein sexueller Übergriff auf einen Minderjährigen bei einer Party. Nun will
an seiner Stelle Stadtrat Nadeem Ahmed den Sitz Wakefield für die
Konservativen verteidigen.
Früher war Wakefield eine Kohlestadt. Vor dem Pub „Zum tiefen Fall“
erinnert eine Plakette vor einem in die Erde gesetzten Rad des ehemaligen
Grubenaufzugs an sieben Bergleute, die 1973 im Schacht Lofthouse ums Leben
kamen, als sie versehentlich in die Wand einer alten unter Wasser stehenden
Grube stießen. Der 33-jährige Wirt zeigt auf ein Schwarz-Weiß-Bild aus den
alten Tagen mit den damaligen Stammgästen. Damals war fast die ganze Gegend
Gewerkschaftsland und fest in Labour-Hand. Aber 2019 holten die
Konservativen Wakefield, zum ersten Mal seit 1932. Man wolle Englands
Norden wieder aufbauen und den Brexit liefern, versprach Boris Johnson
damals und siegte.
Und heute? Der Wirt Nick Stanley-Lunn antwortet mit einer Erinnerung aus
dem letzten Jahr. Da durfte er seinen todkranken Opa wegen der
Corona-Distanzregeln nicht besuchen. Zugleich wurde in 10 Downing Street
unter Boris Johnsons Obhut gefeiert und gesoffen. „Unser Pub musste
schließen. Trotzdem stand die Polizei mehrere Male vor unserer Haustür. Wir
erhielten eine Geldstrafe, weil die Polizei der Meinung war, wir würden
hier unerlaubte Treffen veranstalten, aber das stimmte nicht, wir sind
nämlich eine achtköpfige Familie und leben alle gemeinsam im Pub, zu dem
eine Wohnung gehört“, regt er sich auf.
Wochenlang plagte sich Stanley-Lunn mit der Polizei ab, bis sie einen
Fehler eingestand. Wie anders war es doch für Boris Johnson und seine Leute
in 10 Downing Street. „Wie kann man einem Mann Glaubwürdigkeit schenken,
der seine eigenen Regeln bricht?“, fragt der Kneipenwirt. Die taz bekommt
dies noch oft in Wakefield zu hören.
## Labour-Chef Starmer sei einfach „nicht einer von uns“
Wird sich Wakefield also wieder auf Labour zurück besinnen? Stanley-Lunn
ist sich dessen nicht sicher, trotz der Aversion gegen Boris Johnson. Das
Problem sei Labourchef Keir Starmer. Immer wieder erzählen Menschen in
Wakefield, dass sie sich für Starmer nicht erwärmen könnten, obwohl sie von
seinem Vorgänger Jeremy Corbyn noch weniger hielten.
Stattdessen fallen andere Namen, alle aus dem Norden: Andy Burnham, der
Bürgermeister Manchesters; Ed Balls, bis 2015 Abgeordneter im benachbarten
Wahlkreis Morley and Outwood; Vizeparteichefin Angela Rayner. Sie alle
seien besser als der Londoner Starmer, der einfach „nicht einer von uns“
sei. Stanley-Lunn glaubt, dass viele gar nicht ihre Stimme abgeben werden.
„Sie haben genug von allen Politiker:innen.“
Rachel, 40, ist eine der Wenigen, die auf alle Fälle Labour wählen werden.
Vor ihrer Haustür steht ein entsprechendes Schild. „Die gestiegenen Kosten
machen die Leute hier fertig“, erzählt sie. „Trotz zweier Jobs, mein
Ehemann und ich arbeiten, reicht es kaum.“ Aber auch für diese Mutter
zweier Kinder ist Starmer nicht der Richtige. Sie bevorzugt seine
Stellvertreterin Angela Rayner. „Sie kommt aus dem Norden, war eine
alleinstehende Mutter ohne Ausbildung und musste alles nachholen. Sie
versteht Menschen wie uns.“
Starmer ist nicht Labours einziges Problem. Als Labourkandidat Simon
Lightwood, ein Sprecher der örtlichen Krankenversorgung, zur Nachwahl
aufgestellt wurde, trat die gesamte Ortsverbandsführung Wakefields zurück.
Ihr Argument: Lightwood stamme nicht aus Wakefield. Doch er hat viele Jahre
in Wakefield gelebt und wohnt jetzt bloß wegen seines Jobs im
Nachbarwahlkreis.
## So richtig überzeugt wohl keine Partei
Somit kämpft ein Teil Labours hier gegen die eigene Partei – nicht dass
dies neu wäre. Beim Besuch der taz in Labours Wahlkampfzentrale in
Wakefield, zur Abgrenzung von der Corbyn-Ära geschmückt mit patriotischen
britischen Flaggen, will sich niemand zur Wahl äußern. Stattdessen
überreicht ein Mitarbeiter einen kleinen vorgedruckten Zettel mit der
E-Mailadresse der regionalen Parteisprecherin.
So richtig überzeugt scheinen die Leute von keiner Partei zu sein. „Wir
brauchen ein großes politisches Erdbeben, mit neuen Programmen und
Politiker:innen, die bei der Wahrheit bleiben“, glaubt Lynne
Lightfoot, Besitzerin eines Strickwarenladens in Osset.
Sollten die Konservativen beide Nachwahlen am 23. Juni verlieren, würde das
den Druck auf Boris Johnson erhöhen. Ein schlechtes Ergebnis für Labour in
Wakefield hingegen würde die Probleme Keir Starmers vergrößern. Beide
Spitzenpolitiker könnten unter Druck geraten, rechtzeitig vor den Wahlen
2024 ihren Platz zu räumen.
Bei den Konservativen geht es aber insgesamt um den Erhalt der
Wählerkoalition, der Boris Johnson 2019 seinen Sieg verdankte.
## Tories müssen verschiedene Wähler:innen unter einen Hut bringen
Tiverton und Honiton hat eine alteingesessene treue Tory-Wählerschaft,
nahezu alle weiß und englisch. Ihnen geht es um niedrige Steuern,
Sittlichkeit, Familie und den Schutz ländlicher Gegenden und deren
Traditionen.
In Wakefield hingegen versuchen sich die Konservativen als neuer
Repräsentant arbeitender Menschen anstelle von Labour, das als
London-zentrierte Bourgeoisie dargestellt wird. Auffallend viele
konservativ wählende Familien in Wakefield stammen aus dem
Einwanderungsmilieu, vor allem Muslime aus Pakistan. Hier geht es um
Chancengleichheit, Religionsfreiheit und die Möglichkeit, in der
Geschäftswelt aufzusteigen.
Patriotismus und Kontrolle der Grenzen gegen neue Einwanderer ist in beiden
Wahlkreisen ein Thema – ebenso die Hoffnung auf Investitionen. Für all das
müssen die Konservativen nun stehen, und das lässt sich so leicht nicht
unter einen Hut bringen.
23 Jun 2022
## LINKS
[1] https://www.theguardian.com/politics/2022/apr/30/tory-mp-neil-parish-says-o…
[2] https://www.ons.gov.uk/economy/inflationandpriceindices/bulletins/consumerp…
[3] /Kommunalwahlen-in-Grossbritannien/!5847820
[4] https://www.theguardian.com/uk-news/2022/may/23/imran-ahmad-khan-sentenced-…
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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