| # taz.de -- Werkstattbesuch Odradek Records: Philanthropisches Laboratorium | |
| > In Pescara feiert Odradek, ein Non-Profit-Unternehmen für Klassik und | |
| > Jazz, zehnjähriges Bestehen. Nun gewährt man Einblick in die | |
| > Schaffensprozesse. | |
| Bild: Odradek hat natürlich ein eigenes Aufnahmestudio, „The Spheres“ | |
| „John, was meinst du? Vielleicht könnten wir heute Abend ein paar | |
| Brahms-Walzer vierhändig spielen?“, sagt Artur Pizarro. „Ich kann nicht | |
| auftreten, ich habe zu viel gegessen.“ In der Tat war das Mittagessen sehr | |
| reichlich. Den Bruchteil einer Sekunde guckt John Anderson verdutzt, aber | |
| Pizarro grinst. „Du kannst auch einfach mein Album auflegen“, schlägt er | |
| noch vor, bevor er geht, um ein Mittagsschläfchen zu halten oder sonst | |
| etwas zu tun. | |
| Das befähigt ihn dazu, später unter anderem Beethovens „Appassionata“ und | |
| Chopins Etüden vor Publikum darzubieten. Sein Solo-Klavierkonzert wird der | |
| Höhepunkt der für den Abend geplanten Jubiläums-Festivitäten sein. | |
| Der portugiesische Pianist Artur Pizarro ist der wohl berühmteste Künstler, | |
| der bei Odradek aufnimmt, einem Label, das der US-Amerikaner John Anderson | |
| vor genau zehn Jahren in Pescara an der italienischen Adriaküste gründete, | |
| um Musiker:Innen die Gelegenheit zu bieten, hochwertige Einspielungen | |
| zu erschwinglichen Konditionen zu realisieren. | |
| ## Künstler und Label auf Augenhöhe | |
| „Ich habe damals vor allem für meine Frau nach Möglichkeiten gesucht, ein | |
| Album aufzunehmen“, erklärt Anderson, „aber Studioaufnahmen sind überall | |
| unglaublich teuer. Außerdem gibt es kaum irgendwo ein gleichberechtigtes | |
| Verhältnis zwischen Künstlern und Label.“ Andersons italienische Ehefrau | |
| Pina Napolitano ist Pianistin, wie er selbst; sie haben sich während des | |
| Studiums kennengelernt. | |
| Napolitano, die außerdem in Slawistik promoviert hat und auch als | |
| literarische Übersetzerin aus dem Russischen arbeitet, ist als Musikerin | |
| sowohl vielseitig als auch engagiert für Musik des 20. und 21. | |
| Jahrhunderts. Unter anderem hat sie sämtliche Schönberg-Klavierwerke bei | |
| Odradek eingespielt. Auch der Name des Labels stammt von ihr, | |
| beziehungsweise aus ihrer Kafka-Lektüre. In der Erzählung „Die Sorge des | |
| Hausvaters“ gibt es eine rätselhafte Figur namens Odradek, die sich jeder | |
| eindeutigen Definition entzieht. | |
| Als sie damals über die Möglichkeit eines eigenen Labels sprachen, was es | |
| sein und wie es funktionieren könnte, habe sie diese Assoziation in den | |
| Raum geworfen, erzählt Pina: „But I was just joking!“ John hingegen habe | |
| den Namen sofort aufgegriffen. „Ich muss immer aufpassen, was ich sage“, | |
| fügt sie hinzu, „denn John setzt gerne jede Idee sofort in die Tat um.“ | |
| Einmal habe sie leichthin erwähnt, dass es schön sein könnte, einen Gong zu | |
| haben. „Und wenige Tage später kam zu meinem Geburtstag ein riesiges Paket | |
| mit einem Gong darin“, auf den nun alle Besucher ihrer Wohnung mit Wonne | |
| einschlagen würden, „zur Freude unserer Nachbarn.“ | |
| ## Multitaskender Labelmacher | |
| John Anderson, so viel wird schnell klar, ist ein Macher. Von Haus aus ja | |
| ausgebildeter Konzertpianist, hat er außerdem auch noch in Oxford | |
| Musiktheorie studiert; doch seit der Gründung von Odradek dreht sich sein | |
| Leben um das Label, das schon längst mehr ist als das, sondern eher eine | |
| Art Dachorganisation, in der zahlreiche Projekte gedeihen. | |
| Alle haben sie auf irgendeine Weise mit Musik zu tun, und realisiert werden | |
| sie typischerweise in der Welt des Digitalen – angefangen mit der | |
| Voting-Plattform Anonymuze, die eigens entwickelt wurde, um das | |
| Odradek-typische, sehr demokratische künstlerische Auswahlverfahren möglich | |
| zu machen. Welche KünstlerInnen ins Programm aufgenommen werden, | |
| entscheidet, analog zum Peer-Reviewing der Wissenschaftswelt, eine | |
| unabhängige Jury, die ausschließlich aus anderen Musiker:Innen besteht, | |
| die ebenfalls bei Odradek veröffentlicht haben. Einreichungen sind genauso | |
| anonym wie Juryvoten, und im Falle einer Ablehnung erfährt kein Mensch – | |
| dafür sorgt das System –, wer wie abgestimmt hat oder wer aus welchem Grund | |
| abgelehnt wurde. | |
| Das Odradek-Team besteht aus qualifizierten Freiberufler:Innen, die über | |
| halb Europa verstreut wohnen. Persönliche Treffen sind selten; schon vor | |
| Corona fanden Besprechungen meist virtuell statt. Zum zehnten Jubiläum aber | |
| hat Anderson alle nach Pescara eingeladen. Es ist eine große Feier, mitten | |
| drin auch eine Handvoll JournalistInnen (Transparenzhinweis: Die Kosten | |
| dieser Recherche wurden komplett von Odradek übernommen und ständig wurde | |
| die Presse mit absurden Mengen von erstklassigen Speisen und Getränken | |
| freundlich gestimmt), und zum abendlichen Festakt im Odradek-Aufnahmestudio | |
| The Spheres, durch den die Fernsehmoderatorin Valentina Lo Surdo (auch sie | |
| eine studierte Pianistin) führt, sind 85 Personen geladen. | |
| ## Ein Familienunternehmen | |
| Ein Knabensopran singt „Santa Lucia“, Valentina Lo Surdo interviewt Pina | |
| und John fließend zweisprachig, und dann tritt Artur Pizarro natürlich doch | |
| auf und konzertiert virtuos auf einem Steinway-Flügel, auf dessen Seite | |
| direkt unter dem Steinway-Logo in üppigen Goldbuchstaben der Name | |
| „Fabbrini“ prangt. Die Klavierbaufirma Fabbrini, ein traditionsreiches | |
| Familienunternehmen mit Filialen in ganz Italien, hat ihre Heimatbasis | |
| ebenfalls in Pescara. Da Angelo Fabbrini jeden einzelnen Konzertflügel, den | |
| er unter den Fittichen hat, einer individuellen Verfeinerung unterzieht, | |
| verfügt er über die Sonderkonzession, sein eigenes Logo mit auf einem | |
| solchen Steinway unterzubringen. | |
| Beim Besuch im Fabbrini-Hauptquartier, das nur einen Steinwurf von Pescaras | |
| Strand entfernt liegt, zeigt Michelangelo Fabbrini, Sohn des Inhabers und | |
| Enkel des Firmengründers, die Namensschilder aus Messing, die innen an | |
| jedem der Konzertflügel angebracht sind und durch die Hände seines Vaters | |
| gegangen sind. Er hat allen einen Namen gegeben: Im großen Ladenraum stehen | |
| Picasso, Matisse, Miró, Monet und Cézanne. | |
| Sein Vater verbinde damit verschiedene Klangfarben, erklärt Fabbrini der | |
| Jüngere, und im Übrigen habe die Namensgebung den Vorteil, dass die | |
| PianistInnen, die mit den Flügeln konzertieren, sich die Namen der | |
| Instrumente leichter merken könnten als Seriennummern. | |
| ## Datensammlung zur Mikrofonierung | |
| Fast so andächtig wie Fabbrini die Flügel wird John Anderson später am | |
| Abend bei einer Führung durch The Spheres seinen Tresorschrank | |
| präsentieren, in dem die Mikrofone aufbewahrt werden. Dabei erwähnt er | |
| nebenbei ein weiteres Projekt, das er ins Leben gerufen hat und das den | |
| Namen Micpedia trägt: Es soll die weltweit größte Datensammlung über | |
| Mikrofontechnik werden. | |
| Und noch einen, wirklich spektakulären Superlativ hat Anderson zu bieten, | |
| nämlich „das größte abgeschlossene Aufnahmeprojekt aller Zeiten“, wie er | |
| sagt. Mehr als 6.500 Stunden Gesang hat sein Team in einem französischen | |
| Benediktinerinnen-Kloster aufgenommen, sämtliche Gesänge der | |
| gregorianischen Liturgie. Das dauerte insgesamt drei Jahre. | |
| Da eine solche Menge Musik schwerlich in eine CD-Box passen würde, gibt es | |
| sie als App – mit Übersetzungen der lateinischen Texte in drei Sprachen. | |
| Derzeit hat Neumz (nach den Neumen, wie die Zeichen genannt werden, mit | |
| denen gregorianischer Gesang notiert wurde) weltweit bereits 14.000 | |
| User:Innen. Es gibt auch eine Gratisversion, mit der die jeweils aktuellen | |
| Gesänge des Tages abgerufen werden können. | |
| ## Ständig neue Projektideen | |
| Da John Anderson offenbar ständig neue Projektideen hat (von denen hier nur | |
| einige angerissen werden können), dürfte aber auch er, der immerhin über | |
| Einkünfte aus der familieneigenen Immobilienverwaltung in Kansas verfügt, | |
| auf Dauer darauf angewiesen sein, dass im Umfeld von Odradek Geld verdient | |
| wird. Sichtlich glücklich ist er, als er von vist.co (kurz für „Visual | |
| Storytelling Company“) erzählt, Odradeks Schwester-Unternehmen, das erst | |
| vor etwas über einem Jahr in Hamburg gegründet wurde und bereits gut im | |
| Geschäft ist mit der Kreation hochwertiger Videos für international | |
| bekannte Künstler:Innen. | |
| Unglaublich genug, aber ihr allererster Kunde sei Warner gewesen, erzählt | |
| Anderson stolz: „Sie geben uns ein Budget, das es uns ermöglicht, | |
| künstlerisch Dinge umzusetzen, die wir für unsere eigenen Künstler nicht | |
| leisten könnten.“ | |
| Joyce DiDonato und Diana Damrau hätten sie für vist.co schon vor der Kamera | |
| gehabt. Dass sein künstlerischer Leiter Tommaso Tuzj so gar keinen Bezug | |
| zur klassischen Musik habe, sei bei der Umsetzung der Videos sogar von | |
| Vorteil, denn ihm fehle schlicht jene Art von Ehrfurcht vor den großen | |
| Stars, die seine Kreativität lähmen könnte. | |
| Und während unter vist.co-Firmierung solides Geld mit visuellem | |
| Storytelling generiert wird, soll Odradek, das Label, dezidiert ein | |
| Non-Profit-Unternehmen bleiben. Umsonst ist es für die Musiker:Innen | |
| zwar nicht, in The Spheres aufzunehmen, „aber“, schreibt John Anderson auf | |
| Nachfrage, „der Einheitspreis, den wir nehmen, entspricht etwa der Hälfte | |
| der tatsächlichen Kosten.“ Sein langfristiges Ziel sei es jedoch, diesen | |
| Preis irgendwann ganz auf null drücken zu können. | |
| 19 Jun 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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