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# taz.de -- „A E I O U“ im Kino: Klauen an der Côte d’Azur
> Eine schicksalhafte Begegnung mit Sophie Rois: Im Spielfilm „A E I O U –
> Das schnelle Alphabet der Liebe“ von Nicolette Krebitz ist vieles
> möglich.
Bild: Sophie Rois und Milan Herms in „A E I O U – Das schnelle Alphabet der…
Angeblich hat sich die Erstbegegnung zwischen Regisseurin Nicolette Krebitz
und ihrem Hauptdarsteller Milan Herms folgendermaßen zugetragen – zumindest
berichtet es Krebitz so: An einem Wintertag in der Sauna erspähte sie Herms
und war sofort sicher, in ihm ihren Adrian gefunden zu haben. Also jenen
jungen Mann, noch nicht ganz volljährig, aber fast, der durch einen Zufall
beginnt, mit der Schauspielerin Anna ([1][Sophie Rois]) anzubändeln.
Obwohl das Wort „Zufall“ zur Debatte gestellt werden kann, denn vieles in
„A E I O U“, Nicolette Krebitz’ nunmehr viertem Langfilm und dem ersten,
der im Wettbewerb der Berlinale zu sehen war, wirkt geradezu schicksalhaft.
Man hat den Eindruck, dass hier eigentlich von Anfang an alles klar war,
dass alle Beteiligten wissen, dass etwas geschehen wird, etwas Bedeutendes.
Dennoch hat der Film nichts Abgekartetes, er ist nicht ausgebufft oder
sonderlich clever. Aber er ist durchdrungen von einer Gewissheit, und zwar
einer Gewissheit, die berührt: dass Liebe, gerade eine vielleicht
unmögliche, möglich ist.
## Sie stehen am Rand
„Ich hatte überhaupt keine Angst. Ich war bereit zu sterben.“ Das sagt Anna
ihrem Vermieter und Freund Michel (Udo Kier), als sie ihm das erste Mal von
Adrian erzählt, ohne überhaupt zu wissen, dass es sich um Adrian gehandelt
hat. Denn Anna wurde, vor der Berliner Paris Bar, ihrer Handtasche beraubt.
Der Dieb, natürlich Adrian, wird wenig später ihr Schüler. Sie erteilt ihm
Sprachunterricht, auf dass er bei einem Schultheaterstück glänzen möge –
oder es nicht völlig vergeige, so wie er, legt der Film nahe, es sonst
eigentlich immer tut.
Adrian hat keine Eltern, wohnt in einer Pflegefamilie, die er häufiger
wechselt als die Klassenstufe. Tatsächlich könnte man behaupten, dass
beide, sowohl Anna als auch Adrian, am Rand angekommen sind. Anna, weil man
sich für sie, die einst populäre Schauspielerin, nun nur noch mäßig
erwärmt, und die in der Folge einen Berg Mietschulden aufgetürmt hat.
Adrian, weil er im Grunde schon immer genau dort stand – am Rand.
## Jungs mit Dosenbier
„A E I O U“ ist ein Film über die Liebe. Aber er ist auch ein Film über
Klassen. Schnellt das ungleiche Paar im Abseits zueinander, ja, sogar an
einem eher unwirklichen Ort, denn ein solcher ist Annas Wohnung, in welcher
der Unterricht erteilt wird, so sind die Grundvoraussetzungen der beiden
doch ganz verschieden. Auch Anna klaut gelegentlich. Doch wenn sie die
Waren im Supermarkt für edle Leute, dessen Wagen nur einen winzig kleinen
Korb besitzen, weil man sich hier nur exklusiv und in kleiner Stückzahl und
wahrscheinlich mehrmals wöchentlich versorgt, in ihrer Handtasche
verschwinden lässt, tut sie das trotzdem in feiner, frisch gebügelter Robe.
Adrians Habitat bleibt indes meist unsichtbar, weil er umgehend in Annas
Welt diffundiert, die beide wiederum ebenfalls irgendwann verlassen, um an
der Côte d'Azur abzutauchen. Aber davor sieht man ihn noch einmal mit
„seinesgleichen“, also unter anderen Jungs, die mit Dosenbier abhängen,
aber dabei nicht subversiv oder cool wirken, sondern nur wie jüngere
Varianten von später abgehängt wirkenden Männern.
## Es ist möglich, zu verführen
„Sie wollten nicht lügen, aber sie wussten auch nicht, was die Wahrheit
war“, sagt die Erzählerin Anna, die das Filmgeschehen hin und wieder
kommentiert. Ob sich Nicolette Krebitz für so etwas wie „die Wahrheit“
interessiert, ist fraglich. Sie interessiert sich fürs Kino, für
Liebesgeschichten, große Gefühle, die Überwindung von Konventionen. In
ihrer Welt ist es möglich, jemanden in der Sauna zu casten, der – was für
ein unglaublicher Zufall – bereits im Rahmen des Jugendtheaters der
Volksbühne geschauspielert hat. Es ist möglich zu stehlen, zu lügen, nackt
durch südfranzösische Gassen zu laufen, sich, trotz erheblicher
Altersunterschiede, verführen zu lassen und auch zu verführen.
Da ist alles nichts dabei. Es wird Wirklichkeit, ohne Wahrheit zu sein.
Oder ist es genau umgekehrt, eine Wahrheit, der die Wirklichkeit fehlt?
20 Jun 2022
## LINKS
[1] /Neustart-an-der-Berliner-Volksbuehne/!5799620
## AUTOREN
Carolin Weidner
## TAGS
Kino
Spielfilm
Liebe
Kino Polen
Fernsehfilm
30 Jahre friedliche Revolution
Rezension
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