# taz.de -- Fußballer Thuram über Diskriminierung: „Rassismus ist profitabe… | |
> Der frühere französische Fußballnationalspieler Lilian Thuram erklärt, | |
> warum ein Perspektivenwechsel wichtig ist, um Rassismus besser zu | |
> verstehen. | |
Bild: Lilian Thuram jubelte und wurde bejubelt nach seinen Treffern im WM-Halbf… | |
taz: Herr Thuram, wann haben Sie begonnen, sich für das Konzept des „weißen | |
Denkens“ zu interessieren? | |
Lilian Thuram: Das ist sehr kompliziert – ich würde sagen, dass es | |
eigentlich meine Lebensgeschichte war, die mich dazu gebracht hat, Fragen | |
über Rassismus zu stellen. Ich bin in Guadeloupe geboren, kam im Alter von | |
neun Jahren nach Paris und in der dritten Klasse meiner Schule in | |
Bois-Colombes gab es Kinder, die mich als dreckigen Schwarzen beschimpft | |
haben. | |
Wie sind Sie damit umgegangen? | |
Es hat mich verletzt; ich habe es nicht verstanden. Meine Mutter hat mir | |
gesagt: „So ist es, die Leute sind rassistisch, das wird sich nicht | |
ändern.“ | |
Haben Sie als Neunjähriger etwas mit dem Begriff „rassistisch“ anfangen | |
können? | |
Für mich hieß rassistisch, dass die Leute Schwarze nicht mögen. Und da | |
meine Mutter es mir nicht weiter erklärt hat, habe ich versucht, die Dinge | |
selbst zu verstehen. Ich habe Bücher gelesen, auch um zu versuchen, meine | |
eigene Familiengeschichte zu verstehen. Als junger Erwachsener habe ich | |
weitergelesen, traf Leute und verstand schließlich, dass Rassismus etwas | |
Kulturelles ist und dass er eine unglaubliche historische Tiefe hat. Ich | |
verstand, dass die Identitäten, die wir als Weiße oder Schwarze haben, mit | |
der Rassifizierung der Welt zusammenhängen, bei der überlegene Rassen | |
geschaffen wurden. | |
Wie kam es dazu, dass Sie selbst darüber ein Buch veröffentlicht haben? | |
[1][Ich habe das Buch geschrieben], nachdem ich in der Nachbarschaft in | |
einem Wartehäuschen eine Zeitschrift gesehen habe, auf deren ersten Seiten | |
es um das „Schwarze Denken“ von verschiedenen Autoren ging. Ich dachte mir: | |
„Warum reden wir nie über das weiße Denken?“ Und ich dachte, dass es | |
interessant wäre, die Art zu ändern, wie Rassismus wahrgenommen wird: | |
nämlich die weiße Kategorie zu hinterfragen, die unbewusst oder bewusst vom | |
Rassismus profitiert. So habe ich das, was in der dritten Klasse passiert | |
war, noch einmal durchgespielt und gesagt: Wenn ich schwarz geworden bin, | |
wann sind diese Kinder, die mich beleidigt haben, weiß geworden? | |
An wen richtet sich das Buch – an diejenigen, die, wie Sie es schreiben, | |
die weiße Maske tragen und sich dessen nicht bewusst sind? | |
Es richtet sich eigentlich an den kleinen Jungen, der ich war. Für mich | |
wäre es interessant, wenn die kleinen Jungen, die mich als dreckigen | |
Schwarzen beschimpft haben, dieses Buch vor dem Treffen gelesen hätten. Ich | |
glaube, dass es dann keine Beleidigungen gegeben hätte, weil die Kinder die | |
weiße Maske zurückgewiesen hätten. Und ich hätte die schwarze Maske nicht | |
getragen. Man muss versuchen, wirklich zu verstehen, [2][dass der Rassismus | |
eine sehr, sehr, sehr lange Geschichte hat] und dass das, was heute | |
geschieht, mit einer Vergangenheit verbunden ist, die uns sehr nahe ist. | |
Wer profitiert vor allem von der weißen Maske? | |
Was für mich sehr interessant war, ist, dass Rassismus von Anfang an eine | |
ökonomisch motivierte Propaganda ist, um Gewalt zu legitimieren. Sobald man | |
vom Sklavenhandel spricht, von der Kolonialisierung, spricht man hinter all | |
dem vom Willen einer Minderheit, sich durch die Aneignung von Körpern und | |
Land zu bereichern. Aber dafür musste sie einen Diskurs erfinden, um einen | |
Konsens zu schaffen, dass es normal ist, das zu denken: Eigentlich sind es | |
keine Menschen wie wir. | |
Was macht Sie optimistisch, dass diejenigen, die heute vom Rassismus | |
profitieren, bereit sind, darauf zu verzichten? | |
Weil ich ein Mann bin. Ich weiß also, dass Männer in der Gesellschaft im | |
Vorteil sind. Das bedeutet, dass ich als Mann daran arbeiten kann, mir | |
bewusst zu werden, dass es tatsächlich Sexismus gibt, dass ich selbst | |
Sexismus produzieren kann. Dass ich bereit bin, meine Söhne so zu erziehen, | |
dass sie sich dessen bewusst werden. Das bedeutet, dass die Menschen, die | |
von Rassismus profitieren, ohne es zu wollen, die gleiche Arbeit tun | |
können. Und ich glaube, dass es tatsächlich immer mehr Menschen gibt, die | |
das tun, weil sie verstanden haben, dass der Kampf gegen den Rassismus auch | |
ein Kampf gegen die wirtschaftliche Gewalt in der Welt ist. | |
Gleichzeitig zeigen Sie sich in Ihrem Buch pessimistisch, weil die | |
Bedingungen für Veränderung immer schlechter würden. | |
Wir befinden uns im Wirtschaftsliberalismus, jeder muss für sich selbst | |
sorgen. Das macht mir Angst. Denn wenn man Rassismus bekämpfen will, | |
Sexismus, Homophobie, dann muss man den Willen zur Gleichheit, zum | |
Miteinander, zur Solidarität haben. Und ich habe den Eindruck, dass wir uns | |
heute auf eine Welt zubewegen, die immer weniger solidarisch ist; alles, | |
was mit der Umverteilung von Reichtum zu tun hat, ist immer weniger | |
akzeptabel. | |
In Deutschland gibt es nicht die Figur eines Sportlers, der auch | |
Intellektueller ist. Sind Sie in Frankreich eine Ausnahme? | |
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute mich als Intellektuellen | |
wahrnehmen. Was bedeutet es überhaupt, ein Intellektueller zu sein? | |
Jemand zu sein, der sich in öffentliche Diskurse einmischt, würde ich | |
sagen, der sich nicht nur als Privatperson versteht. | |
Leider wird den Sportlern suggeriert, [3][dass sie sich nicht für Politik | |
interessieren sollen], sie sollen einfach nur Fußball spielen. Aber ich | |
möchte sagen, dass Fußball politisch ist, und deshalb fordere ich die | |
Fußballspieler auf, das Wort zu ergreifen und bestimmte Dinge anzuprangern. | |
Und im Übrigen glaube ich, dass die Politiker im Allgemeinen Angst vor den | |
Worten der Sportler haben, weil sie wissen, dass sie eine sehr große Zahl | |
von Menschen erreichen können. | |
17 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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