# taz.de -- Transformationsforscher zum Klimawandel: „Für Unternehmen ein Di… | |
> Wie schnell kann die Industrie fossile Energieträger ersetzen? Kommt auf | |
> die Branche an, sagt Industrieforscher Tobias Fleiter. | |
Bild: Sieht nicht nach 21. Jahrhundert aus: Werksgebäude des Stahlwerks Thysse… | |
taz: Herr Fleiter, wird in der Industrie seit dem russischen Angriff auf | |
die Ukraine ernsthafter über die schädliche Abhängigkeit von fossiler | |
Energie diskutiert als vorher? | |
Tobias Fleiter: Auf den Weg zur Dekarbonisierung hatte sich die Industrie | |
schon vorher gemacht. Neu ist ihr Verhältnis zum Gas. Vor dem Ukraine-Krieg | |
war Erdgas quasi der Lieblingsenergieträger aller Industriebranchen. Jetzt | |
ist klar geworden, dass Gas viel teurer wird und die Versorgung nicht so | |
sicher ist, wie gedacht. Deshalb fragen sich alle, wie sie ihre Prozesse | |
auf andere Energieträger umstellen können. | |
Der hohe Gaspreis ist das entscheidende Kriterium? | |
Entscheidend für solche Überlegungen ist auch der hohe CO2-Preis. Er liegt | |
inzwischen bei 70 bis 80 Euro und hat damit erstmals einen Einfluss auf | |
Investitionsentscheidungen. Unsere Analysen zeigen, dass besonders Strom | |
und Wasserstoff zentrale Energieträger für die CO2-neutrale | |
Industrieproduktion sind. Es wäre geschickt, nun die Gelegenheit zu nutzen | |
und direkt in die Elektrifizierung der Prozesswärme einzusteigen. | |
Welche Branche kommt denn wie schnell weg vom Gas? | |
Die Chemische Industrie steht sicher vor den größten Herausforderungen, | |
[1][weil sie Öl und Gas nicht nur als Energieträger, sondern auch als | |
Rohstoffbasis verwendet.] Die Papier- oder auch die Nahrungsmittelindustrie | |
haben es leichter. Sie nutzen Gas, um Dampf für ihre Produktionsprozesse zu | |
erzeugen und haben dafür technische Alternativen. Statt Gas- können sie | |
beispielsweise Elektrodenkessel nutzen, der Dampf mit Strom erzeugt. Es | |
wäre im Übergang sinnvoll, sie parallel als hybride Anlagen zu betreiben, | |
also Gas- und Elektrokessel nebeneinander. Die Unternehmen könnten | |
entsprechend der aktuellen Marktsituation den jeweils günstigeren | |
Energieträger nutzen und wären resilienter, auch gegenüber Krisen wie der | |
gegenwärtigen. | |
Zwei Systeme nebeneinander – ist das nicht zu teuer? | |
Angesichts der derzeitigen Gaspreise und der großen Versorgungsunsicherheit | |
lohnt sich das. Ein Problem sind die hohen Strompreise. Alle Initiativen, | |
die den Strompreis entlasten, sind gut. | |
Vor 16 Jahren erschien der sogenannte Stern-Report, der die Kosten der | |
Erderhitzung benannte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte man wissen | |
können, kein Klimaschutz ist teurer als Klimaschutz. | |
Aus unseren Analysen zu Investitionen in Energieeffizienz wissen wir: | |
Unternehmen denken deutlich kurzfristiger. Investitionen müssen sich | |
schnell rentieren, etwa innerhalb von zwei bis drei Jahren. Ein ganzes | |
Stahlwerk auf Wasserstoff umzurüsten ist natürlich etwas anderes, solche | |
Anlagen sind strategisch wichtige Investitionen mit langfristiger | |
Perspektive. Sie haben eine Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren oder sogar | |
länger. Das ist auch ein Problem: Jede fossile Anlage, die derzeit noch | |
gebaut oder modernisiert wird, ist 2040 oder 2050 noch in Betrieb. Wenn wir | |
2045 klimaneutral sein wollen, müssen wir solche Investitionen heute | |
vermeiden. Für Unternehmen ist das ein Dilemma. | |
Warum? | |
Einerseits wissen sie, dass fossile Anlagen keine Zukunft haben. | |
Andererseits sind Investitionen in klimaneutrale Anlagen im | |
großindustriellen Maßstab auch unsicher. Erstens wissen Unternehmen nicht, | |
ob ihre Kunden – Konsumenten oder auch Weiterverarbeiter – zu einem höheren | |
Preis klimaneutrale Produkte kaufen. Zweitens kann der derzeit hohe | |
CO2-Preis wieder fallen. Drittens sind technische Alternativen – vor allem | |
wenn sie auf grünem Wasserstoff basieren, derzeit noch nicht verfügbar. | |
In welchem Zeitraum wird es denn realistischerweise genügend Wasserstoff | |
geben? | |
Die Europäische Kommission hat ihr Ziel für 2030 gerade verdoppelt, es | |
sollen bis 2030 jährlich 10 Millionen Tonnen Wasserstoff heimisch | |
produziert und zusätzlich 10 Millionen Tonnen importiert werden. Ich sehe | |
nicht, wo die herkommen sollen. Dazu müsste die Infrastruktur sehr viel | |
schneller aufgebaut und hochgefahren werden als etwa im Bereich der | |
Photovoltaik in ihren größten Boom-Jahren. Gleichzeitig ist die Komplexität | |
beim Wasserstoff viel höher. | |
Gehen wir die Branchen doch mal durch – wer ist am weitesten auf dem Weg | |
Richtung CO2-Neutralität? | |
Alle Branchen haben Roadmaps für diesen Weg vorgelegt. [2][Am weitesten | |
gekommen sind wohl die Stahlhersteller] mit ihren Ideen. Im Grunde haben | |
alle angekündigt, Direktreduzierungsanlagen zu bauen; das heißt, sie | |
ersetzen ihren Hochofen durch eine Anlage, die Wasserstoff einsetzen kann. | |
Welche Branche liegt besonders weit zurück? | |
Die Zement- und Kalkhersteller können nicht CO2-neutral produzieren. Sie | |
sind langfristig darauf angewiesen, CO2 abzuscheiden und zu speichern. | |
Dafür brauchen sie Speicher und eine entsprechende Transportinfrastruktur, | |
also Kohlendioxidpipelines. Speicher gibt es in der Nordsee in alten | |
Gasfeldern. Dänemark, Großbritannien und die Niederlande erschließen sie | |
gerade, auch für deutsche Zement- und Kalkwerke. | |
Was ist im Industriesektor das wichtigste Projekt, um weg von Öl und Gas zu | |
kommen? | |
Wir müssen schnell in elektrische Prozesswärme einsteigen. Wie erwähnt sind | |
hybride Systeme im Übergang eine Schlüsseltechnik. Abgesehen davon müssen | |
wir dringend Märkte für CO2-neutrale Produkte schaffen, die es den | |
Unternehmen erlauben, ihre Mehrkosten einzupreisen. Ein Beispiel: Als | |
Kundin könnten Sie sich im Baumarkt derzeit nicht für den Sack Zement mit | |
dem geringsten CO2-Rucksack entscheiden, da diese Information ganz einfach | |
fehlt. Unternehmen können ein CO2-neutral hergestelltes Produkt nicht | |
teurer verkaufen, weil der Kunde (oder Weiterverarbeiter) nicht erkennen | |
kann, dass es besser ist. Eine Kennzeichnungspflicht zum CO2-Fußabdruck von | |
Produkten kann hier Abhilfe schaffen und wäre die Grundlage für eine | |
Nachfrage nach klimafreundlichen Produkten. | |
Bauen ist jetzt schon teuer, ist es realistisch, dass der Bau | |
klimaneutrale, teure Baustoffe einsetzt? | |
Die Baustoffe haben ja nur einen geringen Anteil an den gesamten Baukosten, | |
das würde schon gehen. Und es ist nun mal so: Der Großteil der Produkte der | |
besonders energieintensiven Industrie landet in der Bauwirtschaft. Es ist | |
ganz zentral, dort eine Nachfrage für klimafreundliche Produkte zu | |
schaffen. Bislang haben wir bei Gebäuden vor allem auf den Energieverbrauch | |
in der Nutzungsphase geschaut. Künftig müssen wir den Emissionsrucksack der | |
verwendeten Materialien stärker berücksichtigen. | |
Hausbesitzer, die sich gerade etwa Wärmepumpen anschaffen wollen, scheitern | |
an Lieferzeiten und Handwerkern. Gilt das auch für Industrieunternehmen? | |
Die Industrie leidet etwas weniger unter dem Fachkräftemangel als die | |
Privatleute. Es geht ja hier nicht um Installateure, die um die Ecke | |
wohnen, der Bau von Großanlagen ist international. Hier ist der Knackpunkt | |
tatsächlich die Wirtschaftlichkeit im Betrieb der Anlagen. | |
Wie teuer wird die Transformation für die Industrie? | |
Wir haben versucht, die Gesamtkosten zu berechnen, das lässt sich aber kaum | |
seriös machen. Ein Ergebnis ist aber: Der Industriesektor benötigt in Summe | |
eher niedrige Investitionen, vor allem im Vergleich zum riesigen | |
Gebäudebestand. Ein modernes Zementwerk mit Technik zur CO2-Abscheidung | |
könnte 200 bis 300 Millionen Euro kosten. Wir haben aber nur 30 bis 40 | |
Zementwerke in Deutschland. Sie umzustellen ist bei Weitem nicht so teuer, | |
wie den Bestand von über 20 Millionen Gebäuden energetisch zu sanieren. Das | |
gilt auch für Stahlwerke: Die Investitionen in ein einzelnes Werk sind mit | |
rund einer Milliarde hoch, um es auf Wasserstoff umzustellen. Aber wir | |
haben nur wenige Hochöfen in Deutschland. Dennoch sind Förderprogramme | |
nötig, um entsprechende Investitionen wirtschaftlich zu machen und den | |
Markteinstieg zu ermöglichen. Hier wird derzeit einiges auf den Weg | |
gebracht. | |
Gelingt die Transformation vor allem durch neue Technologien? | |
Nein. Unser Ziel muss eine energie- und materialeffiziente | |
Kreislaufwirtschaft sein. Dazu gehört auch ein effizienterer Einsatz und | |
geringerer Verbrauch von energieintensiven Produkten wie Zement, Stahl, | |
Kunststoffen entlang aller Stufen der Wertschöpfungsketten. Wirtschaften | |
wie heute, nur mit grünem Wasserstoff, das wird nicht gehen. Dazu ist unser | |
Energiebedarf derzeit zu gewaltig. | |
14 Jun 2022 | |
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