| # taz.de -- Ausstellung über Marcel Reich-Ranicki: Beheimatet in der Literatur | |
| > Pointiert und diszipliniert: Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt | |
| > widmet dem Literaturkritiker Reich-Ranicki eine Ausstellung. | |
| Bild: Fotos aus Privatbesitz: Ulrike Meinhof und Reich-Ranicki, Sylt 1967 (Gene… | |
| Eigentlich für den 100. Geburtstag von [1][Marcel Reich-Ranicki] geplant, | |
| eröffnete sie nun pünktlich zu seinem 102. Geburtstag am 2. Juni: eine | |
| Ausstellung zu Leben und Werk des Literaturkritikers in der Deutschen | |
| Nationalbibliothek in Frankfurt, entstanden in Zusammenarbeit mit dem | |
| Exilarchiv. Die Ausstellung, pandemiebedingt verschoben, ist nicht | |
| chronologisch aufgebaut, sondern folgt den Rollen, die Reich-Ranicki im | |
| Laufe seines Lebens in unterschiedlichen Funktionen gespielt hat. | |
| Er war nicht nur Literaturkritiker, sondern von der Geschichte des 20. | |
| Jahrhunderts geprägter Zeitzeuge als Verfolgter, Agent und Konsul, | |
| Heimatsuchender und Außenseiter als agnostischer Jude, Ruhestörer, | |
| leidenschaftlicher Polemiker und Provokateur, Kritiker ebenso wie heftig | |
| Kritisierter, Literaturchef und Literaturvermittler, Freund und | |
| Widersacher, zuletzt schließlich Autobiograf und Medienstar, zu dem ihn das | |
| von ihm nicht besonders geschätzte Medium Fernsehen machte. | |
| Das erzählen und belegen in der Ausstellung Dokumente aus öffentlichem und | |
| privatem Besitz, Fotografien und Hörstationen mit Originaltönen. | |
| ## Das Literarische Quartett | |
| Zu Reich-Ranickis Rolle als Medienstar trug vor allem das Fernsehen bei, | |
| für das er im ZDF von 1988 bis 2001 die Sendung „Das Literarische Quartett“ | |
| präsentierte. Selbst erfunden hatte er das Format freilich nicht, wie er | |
| später in seiner Autobiografie suggerierte. | |
| Die damaligen „Aspekte“-Redakteure Johannes Willms und Dieter Schwarzenau | |
| vermochten Dieter Stolte, den Chef des Senders, für den Reich-Ranicki eher | |
| ein Nobody war, von ihrem Vorschlag zu überzeugen und die personelle | |
| Besetzung des Quartetts durchzusetzen. In den Sendungen wurden insgesamt | |
| rund 400 Bücher diskutiert, von denen viele zu Bestsellern wurden. | |
| Das wiederum war nicht die Absicht Reich-Ranickis, sondern eher ein | |
| Nebeneffekt, der die Sendung für die Verlage interessant machte und den | |
| Fernseh-Oberen die gewünschten Zuschauerquoten bescherte. Reich-Ranicki lag | |
| erklärtermaßen viel an der Popularisierung von Literaturkritik, wofür er | |
| dabei unvermeidliche Trivialisierungen explizit billigend in Kauf nahm. | |
| ## 200 Bücher von Reich-Ranicki | |
| Als Literaturvermittler hat Reich-Ranicki gut 200 Bücher verfasst, | |
| herausgegeben oder mitherausgegeben. Er war ein sehr disziplinierter | |
| Arbeiter am Schreibtisch – eine Tugend, die ihm bleibende Verdienste um | |
| Literatur und Literaturkritik sichert. | |
| Meinungsstärke und Meinungsurteile gehörten immer zu Reich-Ranickis | |
| Markenzeichen, die er hegte und pflegte. Die Frankfurter Schriftstellerin | |
| Eva Demski, die den Kritiker seit 1967 kennt, erzählte anlässlich der | |
| Ausstellungseröffnung von periodischen Treffen mit ihm, bei denen er | |
| bedenkenlos deklamierte: „Frauen können kein Romane schreiben.“ | |
| Mit gleicher Vehemenz betätigte sich der Literaturkritiker zumindest im | |
| familiären Umfeld als Modekritiker, wie seine Schwiegertochter Ida Thompson | |
| erzählte. Sie schickte er bei Besuchen regelmäßig zurück ins Hotel, um | |
| etwas Passenderes anzuziehen, bis das aus London angereiste Ehepaar damit | |
| drohte, die Besuche in Frankfurt einzustellen, falls sich derlei Zumutungen | |
| wiederholen sollten. | |
| Als Literaturchef einer großen Zeitung war der Kritiker nachsichtiger und | |
| spielte sich nicht als Diktator auf, obwohl er einen starken Hang zur | |
| Perfektion hatte. Jürgen Kaube, Mitherausgeber der FAZ, berichtete von | |
| einem Frankfurter Taxifahrer, der den Kritiker oft fuhr und als,„cool“ | |
| erlebte und bezeichnete. Wie auch immer man Reich-Ranicki privat erlebte, | |
| Kaube lernte ihn als einen kennen und schätzen, „der keine Angst“ hat, was | |
| angesichts der Lebensgeschichte des Zeitzeugen Reich-Ranicki überrascht. | |
| Kurz nach dem Abitur 1938 wurde der junge Reich-Ranicki aus Berlin nach | |
| Polen deportiert und nach dem Überfall Polens durch die deutsche Wehrmacht | |
| im Warschauer Getto interniert. Im Getto lernte er seine spätere Frau | |
| Theofila Langnas, eine polnisch-deutsche Künstlerin und Übersetzerin | |
| kennen, mit der ihm im Februar 1943 die Flucht gelang. Im Getto hatte | |
| Reich-Ranicki als Übersetzer für den von den Nazis eingesetzten Judenrat | |
| gearbeitet. | |
| ## Berlin und London | |
| Nach der gelungenen Flucht lebten die beiden fortan illegal in einer | |
| Kellerwohnung und waren auf die Unterstützung humaner polnischer | |
| Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Nach Kriegsende suchte das Ehepaar | |
| zunächst Zuflucht in Berlin, wo Reich-Ranicki für die polnische | |
| Militärmission in den Auslandsnachrichtendienst eintrat. 1948 emigrierten | |
| die Reich-Ranickis nach London. | |
| Hier wurde er zum Vizekonsul und Hauptmann ernannt, aber nach kurzer Zeit | |
| abberufen, aus dem Geheimdienst entlassen und aus der kommunistischen | |
| Partei ausgeschlossen sowie mit einem Publikationsverbot belegt. Nach der | |
| Aufhebung dieses Verbots emigrierte Reich-Ranicki 1957 in die BRD, wo er | |
| zuerst in Frankfurt und dann in Hamburg lebte, bevor die Familie 1973 | |
| definitiv nach Frankfurt zog. | |
| Seine Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst blieb jedoch bis 1994 | |
| unbekannt, als Tilman Jens, der Sohn seines Freundes Walter Jens, einen | |
| Bericht darüber publizierte, was die Freundschaft mit dem Vater arg | |
| lädierte. In Frankfurt wurde Reich-Ranicki Redakteur bei der FAZ. | |
| Im Nachkriegsdeutschland blieb er fremd und ein Außenseiter, denn hier | |
| standen politische Antiquitäten wie nationale Homogenität und Leitkultur | |
| noch immer bei vielen hoch im Kurs, wenn auch nicht mehr lange in einer | |
| politisch relevanten Mehrheit. Noch 1997 bekannte er: „Ich bin kein | |
| Deutscher. Ich liebe Frankfurt nicht.“ „Ich liebe Petra Roth (die | |
| langjährige Frankfurter Oberbürgermeisterin; RW) … Dass ich heimatlos bin, | |
| stimmt nicht, meine Heimat ist die deutsche Literatur. Punkt. Schluss.“ | |
| 8 Jun 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nachruf-auf-Reich-Ranicki/!5058844 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Walther | |
| ## TAGS | |
| Ausstellung | |
| Marcel Reich-Ranicki | |
| Frankfurt/Main | |
| Lebensgeschichte | |
| Literarisches Quartett | |
| Literaturkritik | |
| Zeitzeugen | |
| Nazis | |
| 100. Geburtstag | |
| Marcel Reich-Ranicki | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausstellung über Kindertransporte: „Wenigstens die Kinder retten!“ | |
| „Kinderemigration aus Frankfurt“ – die Ausstellung zeigt, wie jüdische | |
| Kinder den Nazis entkamen. Und wie schwer es war, Aufnahmeländer zu finden. | |
| 100. Geburtstag von Erich Fried: Der unversöhnliche Philanthrop | |
| Er war ein unbequemer Schriftsteller zwischen allen Stühlen. Dennoch ist | |
| lohnenswert, das Werk von Erich Fried zum 100. Geburtstag neu zu entdecken. | |
| Deutschlands größter Literaturkritiker: Marcel Reich-Ranicki ist tot | |
| Er war Deutscher, Jude und ein Intellektueller mit ausgeprägtem | |
| Unterhaltungswert: Nun ist Marcel Reich-Ranicki gestorben. Er wurde 93 | |
| Jahre alt. |