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# taz.de -- Missbrauch in Wermelskirchen: Mehr ist nicht besser
> Viele fordern mehr digitale Kontrollen, um Gewalt gegen Kinder zu
> verhindern. Mehr Daten bringen aber nicht automatisch mehr Sicherheit.
Bild: Offenbar mangelt es nicht an Hinweisen, sondern an Personal, das diesen n…
Da ist es wieder – das Schreckgespenst Datenschutz. Ein fürchterliches
Verbrechen kommt ans Licht – und weil niemand richtig weiß, wie diese
schlimme Gewalttat hätte verhindert werden können, sind vermeintlich
fehlende Überwachungsmechanismen und restriktive Gesetze zum Durchforsten
von Computern oder digitaler Kommunikation schuld. So geschehen in dieser
Woche.
Konkret geht es um einen [1][erschütternden Fall von sexualisierter Gewalt
an Kindern in Wermelskirchen]. Ein 44-jähriger Tatverdächtiger wird
beschuldigt, Kleinkinder, Babys und Kinder mit Behinderung missbraucht zu
haben. Besonders perfide an dem Fall ist, dass der Verdächtige laut der
Polizei offenbar als Babysitter bei den Familien im Einsatz war. Seine
Taten habe der Beschuldigte gefilmt und fotografiert, rund 30 Terabyte an
Daten hat die Polizei beschlagnahmt. Zudem gab es wohl regen Austausch auf
diversen Onlineplattformen und in einschlägigen Foren.
Der Fall ist nur einer in einer erschütternden Reihe von Sexualstraftaten
an Kindern der jüngeren Vergangenheit: Münster, Lügde, Bergisch Gladbach.
Jetzt Wermelskirchen. Es wiederholt sich das zweifelsfrei berechtigte
Entsetzen in Politik, Polizei und Medien. Dann beginnt die Suche nach
Fehlern und Lösungen. Hätten die Kinder vor diesem Leid bewahrt werden
können? Hätten Täter:innen früher gestellt werden können? Und es
wiederholt sich der Schrei nach mehr Regulierung im Netz. Natürlich ist in
unserer durchdigitalisierten Welt das Internet ein Hort der Verbrechen und
Gewalttaten. Dank einfachster Vernetzung drängen Täter:innen aus aller
Welt in den virtuellen Raum – und verschaffen sich Zugang zu Ware, die
strafrechtlich relevant ist.
Also ran an die Daten! Bundesinnenministerin Nancy Faser fasst die
gebeutelte Vorratsdatenspeicherung bisher nur mit spitzen Fingern an. Auf
jeden Fall will sie irgendwie an Standort- und Verkehrsdaten ran. Die
Innenminister von Bayern und Nordrhein-Westfalen schlagen schärfere Töne
an. Sie fordern Zugang zu IP-Adressen von Computern, damit Versender von
Nachrichten identifiziert werden können. Die IP-Adresse gleicht der
Postanschrift auf einem Brief. Sie ist notwendig, damit Versender und
Empfänger wissen, wohin Datenpakete geschickt werden sollen. Allerdings
sind IP-Adressen nicht an einen Ort gebunden. Nach Medienrecherchen spielte
dieses Thema auch im Fall Wermelskirchen eine Rolle. Die IP-Adressen, die
den Tatverdächtigen hätten vielleicht überführen können, seien aus dem
Ausland nicht übermittelt worden, heißt es. Ist hier nun wirklich der
Schutz der Daten schuld? Oder nicht doch viel mehr ein Scheitern der
zuständigen Behörden?
## Einsatz von künstlicher Intelligenz
Eines ist aber klar: Politik und Behörden nehmen den Schutz der Kinder
endlich ernst. Gewalt gegen Kinder wird nicht bagatellisiert. Dank des
Einsatzes digitaler Technologien kommen auch mehr Straftaten dieser Art
zutage. Software scannt die Daten von einschlägigen Plattformen, die
Minderjährige wie Ware auf dem Markt anbieten. In Niedersachsen wird
derzeit über den verstärkten Einsatz von künstlicher Intelligenz
nachgedacht. Denn offenbar mangelt es Bundes- und Landeskriminalämtern
nicht an Hinweisen zu digitalem Material, das sexualisierte Gewalt an
Kindern zeigt.
Das Problem ist ein anderes: Plattformanbieter werden nicht großflächig
aufgefordert, diese Inhalte zu löschen. Das kann daran liegen, dass es
nicht ausreichend Personal in Behörden gibt, die für diese Aufgaben
eingesetzt werden. Oder auch an rechtlichen Möglichkeiten, an Plattformen
heranzutreten, die ihren Sitz im Ausland haben, wodurch Austausch und
Kommunikation erschwert sind.
Mehr Daten bedeuten mehr Sicherheit – denkt zumindest die EU-Kommission und
will deswegen die sogenannte Chatkontrolle. Darüber möchte sie erwirken,
dass Polizei und Chat-Anbieter private digitale Chats sichten können. So
könnten etwa Darstellungen sexualisierter Gewalt frühzeitig erkannt werden.
Allein die Masse an Daten, die von einer Software gescannt wird, dürfte
aber für hohe Fehlerquoten sorgen: Nacktbilder der Kinder vom Urlaub am
Meer, die im Familienchat kursieren, oder der einvernehmliche Sexchat der
Erwachsenen könnten die Aufmerksamkeit der Polizei wecken.
Der Forderung nach mehr Überwachung für bessere Verbrechensaufklärung liegt
oft dieses beliebte – aber verzweifelte – Argument zugrunde: „Wer nichts …
verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.“ Beliebt deshalb, weil es
leicht ist, zu fordern. Was sollen staatliche Behörden schon auszusetzen
haben an besagten Urlaubsbildern oder frivolen Chats? Die sind in der
virtuellen Welt für viele vermeintlich uninteressant. Und verzweifelt, weil
die Hoffnung vorgegaukelt wird, dass schrecklichste Gewaltverbrechen an
vulnerablen Gruppen so verhindert werden könnten. Doch die
Massenüberwachung ist schlicht ein beispielloser Eingriff in die
Privatsphäre eines jeden Menschen. Behörden überschreiten damit ihre
Machtgrenzen, und wir geben ihnen unser Einverständnis dazu. Besser wäre
der Satz: „Ich habe nichts zu verbergen, und was ich privat tue, geht euch
auch nichts an.“
## Mehr Personal und bessere Ausstattung
Regierungen, Behörden, staatlich geführte Institutionen überwachen Gruppen
oder Einzelpersonen dann gezielt, wenn es einen Anlass gibt, also einen
Verdacht auf kriminelle Handlungen. Dafür braucht es einen richterlichen
Beschluss. Dann können auch die Netzaktivitäten dieser Person oder Gruppe
überwacht werden. Ohne diesen Mechanismen würden im Prinzip alle Personen
zunächst unter Generalverdacht gestellt werden. Wir alle wären potenzielle
Verbrecher:innen und auch noch so unwichtige Details unseres
Privatlebens verdächtig.
Insbesondere bei Kindesmisshandlung und sexualisierten Gewaltverbrechen
gegen Schutzbefohlene stellt sich immer wieder die Frage: Gab es digitale
Spuren zu den Täter:innen? Und hätten sie gestoppt werden können? Die
digitale Welt in ihre Schranken zu weisen, gibt darauf keine Antworten.
Stattdessen braucht es mehr Einsatz in der analogen Welt. Schule, Kita,
Sozialarbeit brauchen sensibilisiertes Personal, das Verdachtsmomente an
die richtigen Stellen bei den Behörden weitergibt.
Und die wiederum brauchen Mitarbeiter:innen, die die passende Ausstattung
sowie das technische Know-how zur Verfügung haben, um schnell zu agieren.
Vermutlich sind diese Forderungen ein größeres Schreckgespenst als jede
Schnellschussforderung nach mehr Datenkontrolle.
5 Jun 2022
## LINKS
[1] /Missbrauch-in-Wermelskirchen/!5858422
## AUTOREN
Tanja Tricarico
## TAGS
sexueller Missbrauch
Kinderschutz
Datenschutz
Kinderpornografie
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sexueller Missbrauch
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