# taz.de -- Kommunalwahl in Sachsen: Alternative für Grimma | |
> Der Sozialarbeiter Tobias Burdukat tritt zur Wahl des Bürgermeisters an: | |
> ein junger, linker Kandidat, der provoziert und Hoffnungen weckt. | |
Bild: Tobias Burdukat und Laura Merz auf dem Fest der Demokratie in Grimma am 2… | |
Tobias Burdukat will es jetzt genau wissen. In was für einer Stadt lebt er? | |
Gibt es Unterstützung für seine Ideen, sein Engagement? Lassen sich die | |
politischen Verhältnisse im sächsischen Grimma, 30 Kilometer südöstlich von | |
Leipzig, nicht doch zum Tanzen bringen, wenigstens ein bisschen? „Sachsen | |
gilt als rechts“, sagt er. „Überall wird man damit in Verbindung gebracht. | |
Ich will zeigen, dass es normale Leute hier gibt. Wir sind nicht die | |
Mehrheit, aber wir sind da.“ Ob die Zahl der Gleich- oder Wohlgesinnten | |
groß genug ist, um eine relevante Minderheit zu bilden, wird sich am 12. | |
Juni zeigen. An dem Tag tritt Burdukat bei den Kommunalwahlen in Sachsen | |
für das Amt des Oberbürgermeisters in Grimma an. | |
Tobias Burdukat, 39 Jahre alt, ist lang, dünn, bärtig, tätowiert, | |
parteilos. Käppiträger, Raucher. Die Linke hat ihn nominiert, die Grünen im | |
Landkreis unterstützen ihn, ebenso Leute aus der lokalen SPD. 2016 erhielt | |
Burdukat den Preis der taz Panter Stiftung und die Goldene Henne – die | |
kennen Sie nicht? Ein gut dotierter Medienpreis des MDR für soziales | |
Engagement und sein Projekt „Dorf der Jugend“. Der Sozialarbeiter hat vom | |
sächsischen Justizministerium außerdem Fördergelder für sein Konzept | |
erhalten, in Grimma einen der „Orte der Demokratie“ zu schaffen. Burdukat | |
ist nicht nur stadtbekannt, ein bunter Hund, ein schräger Vogel, ein | |
bodenständiger Anarcho, sondern hat längst über Grimma hinaus einen Ruf als | |
Aktivist und Vertreter einer Generation, die neue, innovative Wege geht. | |
Um für seine Projekte ein Crowdfunding zu organisieren, ist er 2021 sechs | |
Wochen allein über die Alpen gewandert. Auf staatliche oder kommunale | |
Gelder will er nicht warten, kann er nicht hoffen. Über das „Dorf der | |
Jugend“ in der ehemaligen Spitzenfabrik am Flussufer der Mulde gab es | |
dauerhaft Streit. 2014 pachtete Burdukat die leer stehende Fabrik samt | |
Gelände vom ehemaligen Besitzer privat, seit 2020 wird sie von der gGmbH | |
Between the Lines betrieben, deren Geschäftsführer Burdukat ist. An einem | |
Freitag im April hat er Dienst im Containercafé, einem umgebauten | |
ehemaligen Schiffscontainer vor dem Fabrikgelände. Der Mulde-Radweg führt | |
direkt vorbei und schlängelt sich durch die hügelige Landschaft. Burdukat | |
klappt die hell gestrichenen Läden der Theke hoch, rückt Stühle und einen | |
Tisch heran. | |
„Ich will einen Wahlkampf machen, der zu mir passt“, sagt er und dreht sich | |
eine Zigarette. Er hat sich vorgenommen, alle 64 Ortsteile von Grimma | |
abzulaufen. Grimma, knapp 30.000 Einwohner, 217 Quadratkilometer groß. Wie | |
der Kleinstaat San Marino, sagt Burdukat mehr verwundert als spöttisch. Er | |
kandidiere für eine Stadt, die Ortsteile habe, in denen er noch nie war. Er | |
selbst ist gebürtig aus Großbothen, das zu Grimma gehört, wo er trotz | |
Lehraufträgen in Leipzig und Nürnberg beständig lebt. | |
Bei seinem Marsch über die Dörfer verteilt Burdukat Postkarten und Flyer | |
mit Fragen: „Was ist Ihr größtes Problem?“ „Was wünschen Sie sich?“ … | |
Ortschaften hätten nur einen Schulbus, keinen öffentlichen Nahverkehr, so | |
viel hat er schon herausgefunden. Manche Dörfer fühlten sich von der | |
Kreisstadt abgehängt, hätten keine Ansprechpartner. Burdukat möchte die | |
Selbstverwaltung und Autonomie der Ortsteile stärken. „Ich habe einen | |
Master in Sozialmanagement“, sagt er, der vor seinem Bachelorstudium der | |
Sozialen Arbeit bei der AOK Sozialversicherungsfachangestellter gelernt | |
hat. „Warum soll man eine Verwaltung nicht hierarchiefrei organisieren | |
können? Es gibt dafür Modelle.“ | |
## Die Skaterfläche wurde geschlossen | |
Die Sonne scheint an diesem Aprilnachmittag, es ist wenig los. Die | |
Innenräume der alten Spitzenfabrik sind vom Bauamt wegen Brandgefährdung | |
gesperrt. Burdukat, der auch Konzerte veranstaltet, scharrt genervt mit den | |
langen Beinen. Der Bauantrag für den Ausbau des Veranstaltungsraums sowie | |
einer Skaterhalle lief wegen Corona aus, dann fehlte das Geld. | |
Laura Merz, die als Streetworkerin für Between the Lines arbeitet, setzt | |
sich dazu. Sie will später zum Rewe-Parkplatz, wo nachmittags oft | |
Jugendliche abhängen. „Es braucht Zeit, an sie heranzukommen.“ Sie hätten | |
keine Orte, um sich zu treffen, und wo es Orte gebe, seien sie nicht | |
erwünscht. Die Skaterfläche neben der Spitzenfabrik wurde von der Stadt | |
geschlossen. „Die Jugendlichen haben keine Lust auf Aufsicht“, sagt Merz. | |
Die drei Jugendzentren der Stadt reichten nicht, um alle Jugendlichen zu | |
erreichen, beziehungsweise es kämen dort nur wenige an, ergänzt Burdukat, | |
der das gängige Konzept von Jugendarbeit kritisiert. | |
Ihm geht es um Freiräume, emanzipative Prozesse. Auf der Wellblechwand der | |
Toiletten im Hinterhof prangt weiterhin das knallbunte Graffito „Kacken ist | |
wichtiger als Deutschland“, das Jugendliche aufgesprüht haben. Das hat für | |
viel Ärger im Stadtrat gesorgt, wo Burdukat bis 2018 aktiv war. Irgendwann | |
wurde ihm die Aufregung rund um seine Person zu viel, er trat zurück, das | |
Graffito blieb. | |
„Jugend ist keine Frage des Alters“, sagt Burdukat, der eine eigene | |
Definition entwickelt hat. „Jugend ist eine Form der Vergesellschaftung“, | |
erklärt er, und man spürt den Vortragsreisenden, der sein Thema gefunden | |
hat. Burdukat ist kein Berufsjugendlicher, der auf jung macht, sondern der | |
jugendlich geblieben ist, weil er entsprechend handeln gelernt hat. „In der | |
Jugend geht es darum, sich abzugrenzen, Probleme zu erkennen und | |
Handlungsfähigkeit zu erlangen.“ | |
Was er für ein Jugendlicher war? Einer, der in der Schule viel Prügel | |
einstecken musste, der Stress mit den Nazis hatte, den sie verhöhnt haben, | |
er hätte „Pudding in den Armen“. Den Spitznamen trägt er bis heute, und | |
zwar liebevoll. Weiterhin bekommt Burdukat hasserfüllte Nachrichten, | |
hämisch, diffamierend. „Ich lasse das nicht an mich heran, sonst könnte ich | |
hier nicht leben.“ Die Anhängerschaft der Freien Sachsen käme mit seiner | |
Kandidatur gar nicht klar. Die vom sächsischen Verfassungsschutz als | |
rechtsextrem eingestufte Partei schickt in Grimma mit Rainer Umlauft einen | |
eigenen Kandidaten in die OB-Wahl. Dritter Kandidat ist der bisherige | |
parteilose Oberbürgermister Matthias Berger, der zum vierten Mal antritt. | |
2015 erhielt der knapp 90 Prozent der Stimmen. | |
## Angefeindet, verprügelt, geblieben | |
Warum ist Burdukat in Grimma geblieben? „Ich konnte mich austoben. Ich habe | |
hier meine Nische gefunden. Konzerte veranstaltet, eine Band gegründet. In | |
den 90ern gab es noch viel Leerstand. Ich konnte so sein, wie ich bin.“ Das | |
klingt paradox: Da wird einer angefeindet, verprügelt und findet dabei zu | |
sich. Viele seiner Freunde sind mittlerweile weggegangen. | |
Auch Jonas Siegert vom Jugendforum in Grimma gehört zu denjenigen, die nach | |
dem Abi weggehen wollen zum Studieren. „Ob ich wiederkomme?“ Er zuckt die | |
Achseln. Es fehle an Orten und Ideen gerade für ältere Jugendliche und | |
junge Menschen. Was er von einem Oberbürgermeister Burdukat erwarten würde? | |
„Dass sich das, was er im Dorf der Jugend angefangen hat, auf die Stadt | |
ausweitet. Dass es mehr solche Räume gibt, wo man sich einbringen und | |
mitbestimmen kann. Der Wille ist da, etwas zu verändern. Aber man muss es | |
auch umsetzen können.“ | |
Der Schüler, knapp 18, noch länger und dünner als Burdukat, mit | |
hellrosafarbenem Kapuzenpulli, gehört wie Streetworkerin Laura Merz zum | |
Aktionsbündnis „Grimma zeigt Kante“, das ein paar Wochen später, am 21. | |
Mai, ein „Fest der Demokratie“ organisiert. Es ist eine Gegenveranstaltung, | |
denn nebenan auf dem Marktplatz vor dem alten Rathaus mit dem | |
Renaissancegiebel veranstaltet die AfD ihr „Frühlings- und Familienfest“. | |
Auch die Freien Sachsen haben trotz eines Unvereinbarkeitsbeschlusses der | |
AfD einen Stand dort. Blaue Hüpfburg, lange Bierbänke, Bratwurststand. Zwei | |
Pärchen in Trachten proben ihre Schrittfolge für den Auftritt. Später wird | |
eine Blaskapelle Volksmusik einspielen. Der AfD-Kandidat für den Landkreis | |
Leipzig, Jörg Dornau, wird sprechen, auch Björn Höcke soll kommen. Viel los | |
ist nicht. | |
Es ist windig an diesem 21. Mai, Tobias Burdukat baut in der Nebenstraße | |
zum Marktplatz seinen Stand auf. Mit Kabelbindern stellt er sicher, dass | |
die Postkarten mit seinem Wahlkampfslogan nicht wegfliegen: „Fantasie statt | |
Fürstentum“. Fürstentum zielt auf Matthias Berger, den parteilosen jetzigen | |
Oberbürgermeister, der sich in einem Interview bei Muldental TV als | |
„stabile Mitte“ zwischen dem Kandidaten der „extremen Linken“ (Burdukat) | |
und der „extremen Rechten“ (Umlauft) präsentiert. | |
## Die dünn besetzte Mitte | |
Dass diese Mitte im Stadtrat bei insgesamt 28 Sitzen mit nur zwei der CDU, | |
zwei der Linken und einem für die SPD dünn besetzt ist (die Grünen sind gar | |
nicht vertreten), scheint ihn nicht verzagen zu lassen. Die AfD ist mit | |
vier Sitzen die stärkste Partei, über die meisten Sitze (elf) verfügt die | |
Freie Wählervereinigung. Knapp 28 Prozent der Grimmaer:innen haben bei | |
den Bundestagswahlen 2021 die rechtsextreme AfD gewählt. „Das macht mich | |
echt fertig“, sagt Burdukat. Während er an seinem Stand bastelt, kommt der | |
AfD-Kandidat für den Bürgermeisterposten in der Nachbarstadt Wurzen vorbei. | |
Bodo Walther streckt Burdukat die Hand hin. „Ich möchte Ihnen nicht die | |
Hand geben“, sagt dieser. „Ich will mit Ihnen wirklich nicht reden.“ | |
Burdukat, der Sozialarbeiter, hält nichts von Dialog, jedenfalls nichts | |
vom Dialog mit der AfD. „Dieses ‚Man muss mit denen reden‘ geht mir auf d… | |
Nerven“, sagt er. „Konsens und Dialog sind eine Form der Akzeptanz. Warum | |
soll ich mich auf Höcke und Konsorten einlassen? Es geht um Streit, nicht | |
um Dialog oder Verständigung. Ich würde immer einen Konflikt dem Dialog | |
vorziehen. Weil ein Konflikt die Probleme zeigt, die da sind.“ Ein Konzept, | |
das für Burdukat dem „Hufeisendenken“ entspringt und einen „demokratisch | |
agierenden Anarchisten wie mich“ erstens nicht zur Mitte zählt, zweitens | |
ins linksextreme Lager abdrängt und drittens, was vielleicht am schwersten | |
wiegt, mit den Rechtsextremen gleichsetzt. „Diese Mitte existiert hier | |
nicht. Und wir werden damit aus dem demokratischen Diskurs ausgeschlossen.“ | |
Grimma ist keine ganz kleine Gemeinde, es profitiert von der Bahnanbindung | |
an Leipzig. Dennoch gibt es keine Hochschule, kein Theater, nur eine | |
Buchhandlung und ein Kino. Die bürgerliche Mitte ist zumindest kulturell | |
unterrepräsentiert. Langsam füllt sich die Nebenstraße zum Markt. Auch beim | |
Fest der Demokratie drängen sich keine Massen – und es gibt leere Flächen, | |
wo weitere Stände hätten stehen sollen. Die angefragte Jugendfeuerwehr und | |
einige Sportvereine hätten unter Verweis auf das Neutralitätsgebot | |
abgesagt, berichten die Organisator:innen Jonas Siegert vom | |
Jugendforum und Laura Merz von Between the Lines. Zufall, dass ihre | |
Vereinssprecher namentlich auf der Unterstützerseite des Bürgermeisters | |
stehen? | |
Siegert und Merz haben das Aktionsbündnis Grimma zeigt Kante Anfang des | |
Jahres mitgegründet, um den Montagsspaziergängen der Querdenkerbewegung in | |
Grimma etwas entgegenzusetzen. Diese entfallen mittlerweile, das | |
Aktionsbündnis hat stattdessen das Fest der Demokratie organisiert, das in | |
dieser Form zum ersten Mal zustande kommt. Auch die Linke-Abgeordnete | |
Kerstin Köditz, die aus Grimma stammt und im sächsischen Landtag | |
innenpolitische Sprecherin ihrer Partei ist, ist gekommen. Der Ortsverein | |
der Linken hat Burdukat nominiert, die lokale SPD ist im letzten Moment | |
ausgeschert. „Es ist mir wichtig zu unterstützen, was Tobias hier über | |
Jahre aufgebaut hat“, sagt Köditz am Rande der Veranstaltung. Er motiviere | |
die jungen Leute. | |
## Antifa-Slogans im Chor | |
Gerade hält sie auf der kleinen Bühne eine Rede, als aus Leipzig gut 30 | |
Aktivist:innen von „Leipzig nimmt Platz“ Einzug halten. Schwarz | |
gekleidet, im Chor Antifa-Slogans skandierend, machen sie Halt an der von | |
der Polizei errichteten Absperrung zum Marktplatz. Ihre Transparente müssen | |
sie dahinter anbringen, ihre Aktivitäten werden von der Polizei | |
misstrauisch beäugt. Die Anwesenden beklatschen den Einmarsch, der Bewegung | |
in die Veranstaltung bringt. | |
Auch das Fest der Demokratie verfügt über eine Hüpfburg (rot), die Grünen | |
verteilen Kochlöffel aus Holz und Windrädchen, statt Bratwurst gibt es | |
selbst gekochte Linsen und Kuchen – gegen Spende. Matthias Berger habe sich | |
für 16 Uhr als Redner angekündigt, sagt Jonas Siegert vom Jugendforum, aber | |
der Oberbürgermeister taucht unangekündigt nicht auf. Auf die schriftliche | |
Nachfrage der taz zwei Tage später reagiert er nicht. | |
Dafür hat Tobias Burdukat bereits gesprochen. Etwas unbeholfen steht er auf | |
der Bühne, die Hände in den Taschen seiner knielangen Hose. Es soll kein | |
Wahlkampfbeitrag sein, es wird doch ein halber. Eine Rede hat er nicht | |
vorbereitet, Burdukat sieht die Wahl als Stimmungsabfrage: Wie sieht es im | |
ländlichen Raum aus? Wie schafft man es hier, die Gleichheitsfrage zu | |
stellen? Wer bleibe, könne nicht viel anders, als sich zu engagieren. | |
Erneut stellt er infrage, dass die politischen Lager miteinander ins | |
Gespräch kommen müssten. „Wir wollen mit euch keinen Dialog führen“, sagt | |
er mit Blick auf die Veranstaltung nebenan. „Wir wollen, dass ihr versteht, | |
dass sich unsere Welt weiterdreht.“ | |
Sollte er die Wahl gewinnen, wird er diese Haltung beibehalten? Kann er | |
sich leisten, mit „denen“ nicht zu reden? „Umgehen muss man mit ihnen“, | |
sagt Burdukat. Seine Meinung dürfe man nicht ins Amt einfließen lassen, | |
doch eine Meinung haben dürfe man. Er überlegt kurz: „Aufs Handgeben kann | |
ich aber schon verzichten.“ Es wird Leute geben, die ihn wegen seiner | |
Unverstelltheit oder Unbekümmertheit wählen werden, und andere, die ihm | |
genau deswegen ihre Stimme verweigern werden. Die Frage ist, wie viele es | |
sind. „Ich möchte wissen, ob sich meine Arbeit hier lohnt“, sagt Burdukat. | |
„Wie viele unterstützen mich? Sind es 5 oder 30 Prozent? Bei 30 lohnt es | |
sich.“ | |
„Es gibt in unserer Stadt viel Nachbarschaftshilfe“, sagt Ingo Runge, „ab… | |
das ist noch lange nicht gleichzusetzen mit einer aktiven | |
Zivilgesellschaft.“ Runge ist Vorsitzender des SPD-Ortsvereins in Grimma. | |
Er hat vor sieben Jahren selbst einmal für das Amt des Oberbürgermeisters | |
kandidiert. Nicht weil er glaubte, eine Chance zu haben, sondern um für | |
eine Alternative bei der Wahl zu sorgen. Auf ihn und einige Linke geht die | |
Idee zurück, Burdukat für eine Kandidatur zu gewinnen. „Die Menschen hier, | |
die progressiv denken, die können jetzt Position beziehen“, sagt Runge bei | |
einem Treffen in Berlin, wo der 52-Jährige bei der Bahn arbeitet. Doch | |
ausgerechnet bei der Aufstellungsversammlung waren er und einige | |
Gleichgesinnte durch eine Corona-Erkrankung verhindert. Der Vorschlag fiel | |
durch. „Parteiinterne Willensbildung“, nennt es Runge. | |
## „Bei uns wird alles pragmatisch gelöst, nicht ideologisch.“ | |
48 Mitglieder zählt die SPD in Grimma, der Altersdurchschnitt sei hoch. Wie | |
läuft die politische Arbeit in Grimma? Runge seufzt. „Es ist ja kein echtes | |
politisches Arbeiten. In kleinen Städten geht es oft mehr um das Konkrete | |
und Menschliche. Bei uns wird alles pragmatisch gelöst, nicht ideologisch.“ | |
Der Pragmatismus heiße dann aber zu oft: unter den Tisch kehren. Runge | |
beklagt den Rückzug ins Private, die Wagenburgmentalität der Stadtoberen, | |
das Delegieren in Ausschüsse und kleinere Zirkel. „Diskussionen finden | |
nicht statt.“ | |
Auch dem SPDler geht es um das Sichtbarmachen von Positionen, das Abstecken | |
eines Resonanzrahmens. „Die Wahl ist eine Möglichkeit, etwas sichtbar zu | |
machen, was man sonst nicht sieht“, sagt Runge. | |
Tobias Burdukat, der Herausforderer, ist ein Typ, den man nicht so schnell | |
übersieht, er wirkt authentisch. Was, glaubt Runge, macht einen Menschen | |
aus, der sein Leben lang gegen Autoritäten rebelliert? „Man wird nicht so, | |
sondern bleibt einfach, wie man ist“, meint der SPD-Mann. | |
Zwischen Grimmaer Marktplatz und Hohnstädter Straße, wo das Fest der | |
Demokratie seinen Lauf nimmt, steigt die Spannung, ohne aggressiv zu sein. | |
Kommt Höcke noch? Als der Mann des als rechtsextrem eingestuften „Flügels“ | |
gegen 18 Uhr doch auftaucht, hat gerade nebenan die Hardcore-Punkrockband | |
20 Liter Joghurt zu spielen angefangen. Plötzlich ist die Musik nicht mehr | |
zu hören, jemand hat den Strom gekappt. Kurz darauf wird den | |
Organisator:innen ein vom Versammlungsamt nachträglich, | |
handschriftlich verfasstes Verbot überreicht, weiterzuspielen – die Musik | |
sei zu laut. Björn Höcke kann ungestört reden, mehr als 100 Personen sind | |
es dennoch nicht, die ihm zuhören. | |
## „Das hat nichts mit radikalem Umsturz zu tun“ | |
Ein etwas bitterer Ausklang, auch für Burdukat. Der Auftritt hat ihm | |
gehässige Kommentare beschert. Ihm sei klar, dass er „mit dieser Kandidatur | |
in einer ländlichen Idylle den Konflikt provoziert“. Konflikt, wohlgemerkt, | |
positiv verstanden. Bezeichnet er sich weiter als Anarchist? „Durchaus“, | |
sagt er. „Ich richte mein Handeln so aus, dass es der Utopie einer anderen | |
Gesellschaft entspricht. Das hat nichts mit radikalem Umsturz zu tun. Dafür | |
bin ich zu sehr Sozialarbeiter. Das muss wachsen.“ Vor zwei Jahren war | |
Burdukat schon mal so weit, aus Grimma wegzuziehen. Nicht weit weg, nach | |
Leipzig. Dann kam Corona, er ist geblieben. In der Langen Straße hat die | |
Between the Lines gGmbH Anfang des Jahres ein Ladenlokal eröffnet. Die | |
Stellen für Streetworking und Gemeindewesensarbeit sind auf drei Jahre | |
durch das Programm „Orte der Demokratie“ finanziert. | |
Was fehlt, ist ausgerechnet die Jugendarbeit: eine Stelle, die bislang von | |
der Stadt finanziert und zum 1. Januar 2022 gestrichen wurde. 17 Ortsteile | |
stehen bei Burdukats Wanderung durchs gesamte Grimma am letzten | |
Maiwochenende noch aus. „Die schaffe ich noch“, sagt er. Endspurt. Was ist, | |
wenn er bei der Wahl scheitert? | |
Bisher sei ihm immer etwas Neues eingefallen, sagt er. | |
10 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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