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# taz.de -- Prozesse gegen Flüchtlinge im Mittelmeer: Bis zu 187 Jahre Haft
> Die griechische Justiz geht gegen Geflüchtete vor. Der Vorwuf:
> Schlepperei. Zudem sollen sie schuld daran sein, dass Passagiere
> ertrunken sind.
Bild: Einsatz der griechischen Küstenwache – hier im Juli 2021 vor der Insel…
Berlin taz | Einmal Freispruch, einmal 1,5 Jahre auf Bewährung: Mit einem
vergleichsweise milden Urteil endete am Mittwoch auf der [1][griechischen
Insel Samos ein Verfahren gegen die afghanischen Flüchtlinge] N., 25, und
Hasan, 23.
Die beiden hatten am 7. November 2020 versucht, mit 22 Menschen auf einem
Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Unter den
Passagieren waren N.s sechsjähriger Sohn sowie die Schwester, der Bruder
und die Mutter von Hasan. Das Boot kollidierte vor [2][Samos] mit Klippen
und kenterte, alle Insassen stürzten ins Wasser. Die Schiffbrüchigen wurden
erst nach Stunden gerettet, nicht aber N.s Sohn – der ertrank, seine Leiche
wurde später an die Küste gespült.
N. und Hasan wurden verhaftet, dem Vater wurde „Kindeswohlgefährdung“
vorgeworfen. Ihm drohten zehn Jahre Haft. Hasan sagte gegenüber der Polizei
aus, das Boot einen Teil der Strecke gesteuert zu haben. Die Justiz warf
ihm deshalb „unerlaubten Transport von Drittstaatsangehörigen“, die
„Gefährdung“ der 23 anderen Insassen sowie den Tod des ertrunkenen
Sechsjährigen vor. Ihm drohten 10 Jahre Haft für jede transportierte
Person, also insgesamt 230 Jahre plus „lebenslang“ für den Tod des Kindes.
Nach einem kurzen Verhandlungstermin am Mittwoch wurde N. vom Vorwurf der
Kindeswohlgefährdung freigesprochen. Hassan bekam eine Strafe von 17
Monaten auf Bewährung.
Der Prozess war einer von mehreren ähnlich gelagerten Fällen in
Griechenland in diesen Wochen. Der Vorwurf lautet in allen Fällen gleich:
Die Beschuldigten sollen – als Passagiere, ohne Bezahlung – Boote gesteuert
haben, in denen sie selbst und andere nach Griechenland gefahren sind, um
Asyl zu beantragen. Ihnen wird Schlepperei vorgeworfen, teils wird ihnen
auch die Schuld dafür gegeben, dass andere Flüchtlinge ertranken, als die
Boote in Seenot gerieten. Dabei drohen enorme Strafen.
## Drakonische Strafen
Am Donnerstag beginnt in Kalamata, südwestlich von Athen, außerdem der
Prozess gegen zwei Männer, die am 3. Mai 2021 ein Boot mit 180 Flüchtlingen
durch griechische Hoheitsgewässer gesteuert haben sollen. Die Gruppe war
eigentlich auf dem Weg nach Italien, weil ein Teil der Insassen bereits in
der Woche zuvor von der griechischen Polizei auf See aufgegriffen und dabei
nach eigenen Angaben ins Wasser geworfen worden war.
Bei dem erneuten Fluchtversuch fiel jedoch der Motor aus. Das Boot wurde
von der griechischen Küstenwache nach Kalamata geschleppt, mehrere Personen
wurden verhaftet. Zwei davon wurden nun angeklagt. Einer der Angeklagten,
ein Syrer namens Ibrahim, streitet nach Angaben der [3][NGO Alarm Phone]
ab, das Boot gesteuert zu haben.
Die NGO kritisiert die griechische Justiz: „Die Urteile werden in kurzer
Zeit gefällt, die Strafen sind drakonisch“, heißt es in einer Erklärung.
„Ohne ausreichende Beweise werden die Menschen in der Regel bei ihrer
Ankunft verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gehalten.“ Wenn ihr
Fall schließlich vor Gericht kommt, dauert die Verhandlung im Durchschnitt
nur 38 Minuten und führe zu einer durchschnittlichen Strafe von 44 Jahren
und Geldstrafen von über 370.000 Euro, das errechnete Borderline Europe,
die diese Prozesse dokumentieren.
## Beliebtes Mittel der griechischen Polizei
Bei einem ähnlichen Prozess gegen die Afghanen Kheiraldin A., Abdallah J.
und Mohamad B. am 5. Mai auf der Insel Syros fielen die Strafen extrem hoch
aus. Die drei hatten an Heiligabend 2021 ein Schiff mit 80 Menschen in der
Ägäis gesteuert. Nach einem Motorschaden kenterte es, 18 Menschen
ertranken. Wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ wurde der
vermeintliche „Kapitän“ Kheiraldin A. zu 187 Jahren und die beiden Helfer
zu je 126 Jahren Gefängnis verurteilt.
Laut der deutschen NGO Borderline Europe ist es mittlerweile die Regel,
dass die griechische Polizei ein bis zwei Flüchtlinge pro Boot als
angebliche Schlepper verhaftet. „Die meisten haben keinen Zugang zu einem
angemessenen Rechtsbeistand, geschweige denn zu Unterstützung von außen“,
heißt es in einer Erklärung von Borderline. „In Griechenland wird
‚Schmuggel‘ härter bestraft als Mord, was dazu führt, dass die Menschen
dort für Jahrzehnte hinter Gittern landen.“
18 May 2022
## LINKS
[1] /Gefluechtete-vor-Gericht-in-Griechenland/!5810493
[2] /Fluechtlingscamps-in-Griechenland/!5757042
[3] https://alarmphone.org/de/
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Griechenland
Schwerpunkt Flucht
Mittelmeer
Seenotrettung
Schlepper
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Frontex
Pushbacks
Flüchtlingspolitik
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