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# taz.de -- Landtagswahl in NRW: Der leise Machtpolitiker
> Am 15. Mai will der Sozialdemokrat Thomas Kutschaty Ministerpräsident
> Nordrhein-Westfalens werden. Er verkörpert Aufstieg durch Bildung.
Bild: Zurückhaltend, fast vorsichtig: Thomas Kutschaty will NRW-Ministerpräsi…
Bielefeld/Essen taz | Laut oder gar dröhnend sind die Auftritte nicht, mit
denen [1][Thomas Kutschaty] am 15. Mai die [2][Landtagswahlen in
Nordrhein-Westfalen] gewinnen will. In der dritten Aprilwoche ist der
SPD-Spitzenkandidat in Ostwestfalen rund um Bielefeld unterwegs.
Sachlich, zurückhaltend, fast leise ist die Wahlkampfrede, die der
53-jährige Jurist an einem Mittwochmittag auf dem Marktplatz des etwa
26.000 Menschen zählenden Städtchens Lübbecke hält. Kutschaty spricht über
drohende Krankenhausschließungen gerade auf dem Land, über schlecht
ausgestattete Schulen.
„Kein Land in der Bundesrepublik gibt pro Kind weniger Geld für Bildung aus
als NRW“, erklärt der Sozialdemokrat – und klingt dabei weniger anklagend
als besorgt. Eine alternde Gesellschaft könne sich schlecht ausgebildete
junge Leute „einfach nicht mehr leisten“, ist er überzeugt: „In den erst…
Lebensjahren entscheidet sich doch, ob jemand Steuern zahlen kann oder über
Jahrzehnte von Transferzahlungen abhängig sein wird.“
## Kostenlose Kitas
Nötig seien deshalb kostenlose Kitas ebenso wie mehr Lehrer:innen. Eine
„Ausbildungsgarantie“ hat Kutschaty ebenfalls im Programm, genauso
„bezahlbare Mieten“ durch den Bau von landesweit 100.000 neuen Wohnungen
sowie bessere Arbeitsbedingungen und Betreuung in der Pflege. Wer dem
Oppositionsführer im Landtag zuhört, dem wird schnell klar: Die Wahlen will
Kutschaty mit der Konzentration auf den sozialen Markenkern der SPD
gewinnen.
Auch hier auf dem Land kommt das gut an. Zwar wird Ostwestfalen von manchen
Rheinländern als Provinz belächelt, doch mit seiner starken Möbel- und
Konsumgüterindustrie, mit den Arbeitnehmer:innen von Firmen wie Miele
und Dr. Oetker sind Teile der Region durchaus sozialdemokratisches
Stammland. Auf dem Marktplatz von Lübbecke, wo die SPD seit Jahrzehnten die
Ratsmehrheit stellt, erntet Kutschaty deshalb mehr als Applaus: Nicht
wenige der etwa 100 Zuschauer:innen scheinen ihn als Kümmerer zu
begreifen.
## Ratschläge der WählerInnen
Die Lehrerin Helma Owczarski rät dem SPD-Spitzenkandidaten, die
überbordende Coronabürokratie an den Schulen einzudämmen. Der Rentner
Michael Hamburger fürchtet Straßenausbaubeiträge, die ihn und die anderen
Anwohner:innen seiner Straße „zwischen 18.000 und 30.000 Euro“ kosten
sollen. Zwar will auch die Landesregierung aus CDU und FDP die
Straßenausbaugebühren durch einen Fonds reduzieren – doch Kutschaty
verspricht die völlige Abschaffung. „Straßen sind Allgemeingut“, erklärt
er. „Schulen werden doch auch nicht allein von den Eltern bezahlt, deren
Kinder dort gerade unterrichtet werden.“
Zurückhaltend, fast vorsichtig wirkt der Mann, der Deutschlands mit 18
Millionen Einwohner:innen mit Abstand bevölkerungsreichstes Bundesland
regieren will, auch bei den nächsten Stationen seiner Wahlkampftour. Egal
ob in einer Kita in einem Brennpunktviertel der Stadt Minden oder in einer
Bielefelder Unterkunft für Geflüchtete aus der Ukraine: Dem Kandidaten
scheint Augenhöhe wichtig.
Bevor er redet, hört er lange zu, fragt nach. „Als Politiker muss man nicht
nur senden wollen, sondern auch empfangen können“, sagt er später dazu in
seinem blauen Wahlkampfbus, auf dem der SPD-Slogan „Für euch gewinnen wir
das morgen“ prangt. „Man muss einfach zuhören können.“
## Authentische Wirkung
Schon durch seine Biografie will der aus dem Essener Stadtteil Borbeck
stammende Kutschaty, der die Bundes-SPD mit Forderungen nach einer Reform
des Hartz-Systems jahrelang genervt hat, authentisch wirken. Als Erster in
seiner Familie hat der 1968 geborene Sohn eines Eisenbahners und einer
Verkäuferin Abitur gemacht, als Erster in der Familie hat er studiert – an
der Ruhr-Universität im benachbarten Bochum.
Der SPD-Spitzenkandidat Kutschaty ist damit selbst ein Produkt der
sozialdemokratischen Bildungspolitik der 1960er und 70er Jahre. Bis 1964
gab es im sechs Millionen Menschen zählenden Revier nicht eine einzige
Hochschule. Selbst Bergbautechnik musste etwa in Aachen an der
niederländisch-belgischen Grenze oder in Clausthal-Zellerfeld im Harz
studiert werden.
Danach verwandelten sozialdemokratische Landesregierungen den Kohlenpott
mit Universitätsgründungen auch in Dortmund, Essen und Duisburg in eine der
dichtesten Hochschullandschaften Europas.
## Familienmensch
Für Kutschaty folgte 1995 das erste Staatsexamen, 1997 das zweite. Bis 2010
arbeitete er in eigener Anwaltskanzlei in Borbeck im Essener Norden. Im
benachbarten Schönebeck wohnt er mit seiner 52 Jahre alten Frau Christina
und der 15-jährigen Tochter Anna noch heute – seine 26 und 22 Jahre alten
Söhne Alexander und Johannes leben in der Nähe, werden ebenfalls Juristen.
2004 hat das Ehepaar in der hellgelb gestrichenen Bergbaukolonie Schönebeck
ein Zechenhaus gekauft. Im gleichnamigen Heimatverein ist Kutschaty, dessen
Nachname schlesische Arbeitsmigrant:innen ins Ruhrgebiet getragen
haben, im Vorstand. „Heimat“, sagt Kutschaty beim Osterfeuer am gerade neu
errichteten Vereinsheim der Bergbaukolonie Schönebeck e. V, „ist für mich,
wenn man sich gegenseitig hilft, wenn man sich beim Nachbarn etwas leihen
kann.“ Eine Schubkarre für den Garten etwa habe er nie besessen. Geduzt
wird „der Thomas“ hier von allen.
Fast zwangsläufig erscheint da der Eintritt in die SPD, die in den
Arbeiterstadtteilen des Ruhrpotts lange nur „die Partei“ genannt wurde.
Schon Anfang der Achtziger nahm ihn sein Vater, bis heute kein
Sozialdemokrat, mit zu Willy Brandt in die Essener Grugahalle. 1986 wurde
Kutschaty Jungsozialist. Dort lernte er auch die spätere
Juso-Unterbezirksvorsitzende Christina kennen. Eine Aufsteiger-Biografie
hat auch Christina Kutschaty, deren Mutter Griechin ist: Nach Hauptschule,
Abitur, Gärtnerinnenlehre studierte sie Raumplanung in Dortmund. Heute
arbeitet sie als Stadtplanerin in Remscheid.
## Parteikarriere
Ihr Mann Thomas machte Parteikarriere. 1999 wurde Kutschaty Stadtrat, 2004
setzte er sich im Kampf um ein Landtagsmandat gegen den SPD-Paten Willi
Nowack durch, der Essen mit einem an die Mafia erinnernden Klüngel- und
Filzgeflecht überzogen hatte. An den später in den Knast gewanderten Nowack
erinnert sich Thomas Kutschaty äußerst ungern.
Seiner Frau ist die Wut auf den einst mächtigen, als „SPD-Gott“ gefeierten
Ratsfraktionschef, dem eine Richterin bescheinigte, er habe etwa bei
Immobiliengeschäften mit der Baumarktkette Hellweg „den Eindruck beim
Zahlenden nicht beseitigt, käuflich zu sein“, dagegen noch heute
anzumerken. Schließlich haben Nowacks Skandale die Essener Sozialdemokratie
fast vernichtet. Noch heute wird die jahrzehntelang rote Ruhrmetropole von
CDU-Oberbürgermeister Thomas Kufen regiert.
Schon die Verdrängung Nowacks zeigt: Kutschaty kann auch Machtpolitik, ist
alles andere als ein naiver Sozialromantiker. Ab 2010 amtierte er sieben
Jahre als Justizminister in beiden Kabinetten der heute 60 Jahre alten
SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Ganze drei Kilometer liegen
zwischen den Häusern der beiden – Kraft lebt in Mülheim kurz hinter der als
„Sozialäquator“ geltenden Autobahn A40, die den reichen Süden vom armen
Norden des Ruhrgebiets trennt. „Das war praktisch“, erzählt der begeisterte
Radfahrer Kutschaty: „Zu Hannelore bin ich immer mit dem Rad gefahren.“
## Liberalere Drogenpolitik
Als Justizminister setzte Kutschaty auf eine liberalere Drogenpolitik und
auf eine intensive gemeinsame Betreuung jugendlicher
Intensivstraftäter:innen durch Polizei, Justiz und Jugendhilfe. Im
parteiinternen Machtkampf nach dem Wahlsieg des Christdemokraten Armin
Laschet zeigte er dagegen Härte. In einer Kampfabstimmung um den
Landtagsfraktionsvorsitz setzte sich Kutschaty 2018 überraschend gegen den
damaligen parlamentarischen Geschäftsführer Marc Herter durch, der als
Vertreter der mitgliederstärksten und damit mächtigsten
nordrhein-westfälischen SPD-Region Westliches Westfalen als gesetzt galt.
Nachdem die Genoss:innen bei der Kommunalwahl 2020 auf historisch
schlechte 24,3 Prozent abgestürzt waren, verdrängte er auch den weithin
unbekannten Bundestagsabgeordneten Sebastian Hartmann als Landesparteichef.
Aus dem Hut gezaubert worden war Hartmann 2018 von einer ominösen, von
einstigen SPD-Granden wie Ex-Landtagsfraktionchef Norbert Römer und
Ex-Verkehrsminister Michael „Mike“ Groschek gestützten
„Findungskommission“.
Auf mitleiderregende 17 Prozent gestürzt war die SPD in ihrem einstigen
Stammland NRW, als Kutschaty im März 2021 zum Nachfolger Hartmanns gewählt
wurde. Heute liegen die Genoss:innen in Umfragen mit etwa 30 Prozent
gleichauf mit der CDU des erst seit Oktober in die Düsseldorfer
Staatskanzlei eingerückten Laschet-Nachfolgers Hendrik Wüst.
## Er braucht die Grünen
Um den abzulösen, setzt Kutschaty auf die zwischen 14 und 18 Prozent
pendelnden Grünen. Auch auf die zwischen 8 und 10 Prozent liegende FDP,
deren Konzept der besonders gut ausgestatteten „Talentschulen“ in
ökonomisch abgehängten Quartieren er massiv ausweiten will, könnte er
angewiesen sein. Auf Grüne und FDP hofft aber auch Wüst – und die grüne
Spitzenkandidatin Mona Neubaur hält sich alle Koalitionsoptionen offen.
Auch Kutschatys Versprechen, die SPD wieder zur „Anwältin und Architektin
des sozialen Neustarts“ machen zu wollen, kann nicht aus NRW allein heraus
umgesetzt werden. Über das Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen soll, über die
Kindergrundsicherung entscheidet die Bundesregierung von Olaf Scholz,
dessen Ukraine-Kurs der im Dezember zum stellvertretenden
SPD-Bundesparteivorsitzenden aufgestiegene Kutschaty unterstützt.
„Da muss was kommen“, mahnt der leise Machtpolitiker mit Blick auf die
versprochenen Sozialreformen schon heute. Sollte er das größte Bundesland
am 15. Mai tatsächlich für die Sozialdemokrat:innen zurückerobern –
kleiner werden dürfte der Druck auf Scholz dann nicht.
4 May 2022
## LINKS
[1] /Thomas-Kutschaty-ueber-NRW-Wahlen/!5842980
[2] /Nordrhein-Westfalen-Wahl-2022/!t5842128
## AUTOREN
Andreas Wyputta
## TAGS
Nordrhein-Westfalen-Wahl 2022
Landespolitik
Wahlkampf
Thomas Kutschaty
NRW
Nordrhein-Westfalen-Wahl 2022
Kolumne Flimmern und Rauschen
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Flutkatastrophe in Deutschland
SPD
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