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# taz.de -- Neugestaltung der EU: Frischekur für Europa
> Um ihrer Müdigkeit zu entkommen, braucht die EU eine neue Verfassung.
> Entscheidend ist, die Bürger*innen mit ins Boot zu nehmen.
Bild: Dringend überholungsbedürftig: Die EU verliert an Zuspruch
Es gibt Momente in der Geschichte, da öffnet sich ein Möglichkeitsfenster –
1990 sprach man vom wind of change. Heute gibt es erneut ein solches
Fenster: 19 Jahre nach dem ersten Verfassungskonvent steht das Projekt
einer Verfassung für eine neue Europäische Union erneut auf der
Tagesordnung – die ersten Weichen sind bereits gestellt: Am 9. Mai endet
die einjährige [1][Konferenz zur Zukunft Europas.]
In den Empfehlungen der durch das Los bestimmten Bürgerpanels stehen ein
Verfassungskonvent für die EU, zahlreiche Vorschläge für eine Neugestaltung
der EU als föderale Republik und weitere Reformen. Im Koalitionsvertrag der
neuen Bundesregierung wird ein Verfassungskonvent gefordert, der zu einem
„föderalen dezentral organisierten Bundesstaat“ führen soll.
Frankreichs alter und neuer Präsident Emmanuel Macron hat sich für einen
Verfassungskonvent ausgesprochen, ebenso die Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen. Das EU-Parlament kann einen solchen Konvent einberufen.
Dafür gibt es eine Mehrheit. Die alte Weisheit: „In der Krise wächst das
Neue“, scheint sich erneut zu bewahrheiten.
## Klare Mehrheit für Reform
Jetzt hat der [2][Krieg in der Ukraine] vielen Menschen, gerade auch in den
östlichen EU-Staaten, deutlich gemacht, dass wir eine demokratische
handlungsfähige EU brauchen. Es geht nicht länger um das Ob, sondern um das
Wie und das Was: Damit das Projekt Erfolg hat und es gelingt, endlich das
Vetorecht aller nationalen Regierungen im Europäischen Rat abzuschaffen,
sollte der Konvent mit genügend Autorität ausgestattet werden.
Er sollte direkt von den Bürger*innen der EU gewählt werden,
letztendlich geht es zentral darum, die Zivilgesellschaft und
Bürger*innen stärker zu beteiligen. Die Abstimmung über die vom Konvent
erarbeitete Verfassung sollte zudem in allen Staaten der EU stattfinden.
Neben einer europaweiten Mehrheit der Abstimmenden müssen auch mindestens
zwei Drittel der EU-Staaten mehrheitlich dafür stimmen.
Wird dies erreicht, tritt die Verfassung in den Ländern in Kraft, die mit
einer Mehrheit dafür gestimmt haben. Die anderen Staaten könnten in einer
neuen Volksabstimmung entscheiden, ob sie der nun neu gegründeten EU
beitreten oder andere vertragliche Beziehungen aufnehmen wollen. Heute und
gerade auch nach dem [3][Brexit] und dem Ukrainekrieg wird kaum jemand
gegen eine Neugründung der EU stimmen.
Die Verfassung sollte ein handlungsfähiges Parlament mit allen Rechten
festhalten. Das Projekt wird nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, eine
dezentral organisierte föderale, aber trotzdem in wichtigen Fragen
handlungsfähige Vielvölkerdemokratie zu gestalten. Dazu wäre es gut, wenn
die Verfassung auch Zielvorstellungen für die großen Politikbereiche
enthielte.
Solche Verfassungsziele schaffen einen Werterahmen für alle Ebenen von den
Kommunen bis zur EU-Ebene – können aber so dezentral wie möglich umgesetzt
werden. Außerdem müssen die verschiedenen Verfassungsziele miteinander in
Einklang gebracht werden. So sollte zum Beispiel die wirtschaftsliberale
Wettbewerbspolitik künftig in einen gemeinwohlorientierten sozialen und
ökologischen Rahmen eingebunden werden.
Von entscheidender Bedeutung ist, die Regierungslastigkeit der
EU-Demokratie zu beenden. Deshalb die Forderung, den Rat durch einen direkt
gewählten Senat zu ersetzen. Aus den Mitgliedsländern könnten je nach Größe
jeweils vier bis zwölf Senatorinnen und Senatoren gewählt werden, sodass
der Senat auch eine politische Pluralität abbildete. Im heutigen Rat
dominieren zu sehr die Interessen der nationalen Regierungen, die sich
gegenüber der jeweiligen Opposition in ihrem Land profilieren müssen.
## Konsens nicht mehr zwingend
Ein direkt gewählter Senat repräsentierte hingegen nicht nur die
Regierungsmehrheiten und könnte eher die Sichtweise der Regionen und
Staaten mit einer europäischen Sichtweise verbinden. Denkbar wäre auch,
dass zu bestimmten Themen nur ein Teil der Mitgliedstaaten eine gemeinsame
Politik vereinbarte. In dem Fall würden auch nur die Abgeordneten dieser
Staaten an der Abstimmung teilnehmen.
Einen grundlegenden Fehler gilt es zu vermeiden: die Direktwahl des
Kommissionspräsidenten. Die USA, Russland oder Frankreich sind warnende
Beispiele dafür, dass dies zur Personalisierung politischer Debatten und
zur Spaltung der Bevölkerung beiträgt. Ebenso schwierig wäre das Verfahren,
wonach der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion die Kommission leitete.
Auch eine klassische Mehrheitsregierung würde die öffentliche Meinung in
Europa eher polarisieren.
Vorzuziehen wäre stattdessen eine Orientierung am Schweizer
Konkordanzmodell, bei dem alle großen Parteien in der Regierung vertreten
sind. Dazu könnte das Parlament die Mitglieder der Kommission mit
qualifizierter Mehrheit (zum Beispiel Zweidrittelmehrheit) wählen, oder die
Besetzung erfolgte aufgrund eines Vorschlagsrechts der Fraktionen nach
d’Hondt. Die Zahl der Kommissionsmitglieder sollte dann auch von der Zahl
der Ministerien abhängen und nicht mehr von der Zahl der Mitgliedsländer.
Last, not least sollte auch die direkte Bürgerbeteiligung ausgebaut werden.
Das bisher einzige Instrument der Bürger*innen, um zwischen den Wahlen von
unten ein Thema auf die europäische Agenda zu setzen, ist die
[4][Europäische Bürgerinitiative] (EBI) – die in den letzten Jahren
erstaunlich konstruktiv und häufig genutzt wurde. Es liegt daher nahe, die
EBI zu einem vollständigen direktdemokratischen Verfahren
weiterzuentwickeln.
Oder man beginnt mit dem Recht, zu konkreten Themen durch Volksentscheid
einen Konvent einzuberufen, wie es in der Urverfassung der Schweiz
enthalten war. Denn der Erfolg der EU wird nicht unwesentlich davon
abhängen, ob es gelingt, die Bürger*innen an der Demokratie auf allen
Ebenen mehr als bisher zu beteiligen.
9 May 2022
## LINKS
[1] /Konferenz-zur-Zukunft-Europas/!5762137
[2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[3] /Schwerpunkt-Brexit/!t5313864
[4] https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/149/die-europaische-burg…
## AUTOREN
Karl-Martin Hentschel
## TAGS
EU-Krise
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Brüssel
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Schwerpunkt Emmanuel Macron
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