# taz.de -- Lizzo hat eine neue Castingshow: Empowerment statt Erniedrigung | |
> Die Sängerin Lizzo sucht in der Castingshow „Watch Out for the Big | |
> Grrrls“ neue Tänzerinnen für ihre Crew. Dabei stellt sie Reality-TV auf | |
> den Kopf. | |
Bild: Die Kanidatinnen sind alle „bad bitches“ mit einer „beautiful soul�… | |
Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Künstler*innen ihrer | |
Branche überdrüssig werden und sich in anderen Bereichen ausprobieren. Dass | |
aus Sänger*innen plötzlich Unternehmer*innen oder aus Models | |
Moderator*innen werden, ist eher die Regel als die Ausnahme. Man denke | |
an Rihanna, die mit Songs wie „Umbrella“ oder „Diamond“ weltberühmt wu… | |
und mittlerweile den Großteil ihres Geldes mit ihrem Kosmetikunternehmen | |
Fenty erwirtschaftet. | |
Oder Schauspielerin Gwyneth Paltrow, die das Lifestyle-Brand Goop schuf, | |
aus dem dann Pop-up-Shops, eine Shopping-Seite, ein Podcast und eine | |
Netflix-Serie wurde. Ob die Unternehmen oder Sendungen wirklich gut sind, | |
spielt für den Erfolg eine untergeordnete Rolle. Ihr Name allein reicht, um | |
die Produkte zu vermarkten. | |
Eine, die nun auch einen Branchenwechsel wagt, ist Melissa Viviane | |
Jefferson. Besser bekannt ist die Rapperin und Sängerin unter ihrem | |
Künstlernamen Lizzo. 2019 wurde die heute 34-Jährige mit ihrem [1][ersten | |
Studioalbum „Cuz I Love You“ weltberühmt]. Seitdem hat die dreifache | |
Grammy-Gewinnerin nicht nur an ihrem zweiten Album gearbeitet, das diesen | |
Sommer erscheinen wird, sondern hat auch ein Unternehmen für Shapewear | |
gegründet und eine eigene Castingshow ins Leben gerufen. Und dabei ganz | |
nebenbei das Prinzip von Reality-TV auf den Kopf gestellt. | |
Denn statt Erniedrigung geht es in der Sendung – es klingt nach einer | |
abgedroschenen Worthülse – um Empowerment der Kandidatinnen. | |
In der Show „Watch Out for the Big Grrrls“, [2][die Ende März in den USA | |
angelaufen ist und ab dem 13. Mai in Deutschland bei Amazon Prime zum | |
Streaming bereitsteht], sucht Lizzo Tänzerinnen für ihr Ensemble. Bei den | |
einschlägigen Agenturen habe sie keine Frauen gefunden, deren Körper ihrem | |
eigenen ähneln, erklärt sie in der ersten Episode. | |
Dreizehn Kandidatinnen zwischen 22 und 35 Jahren dürfen nun also vor der | |
Sängerin vortanzen. „Curvy“ ist von ihnen niemand, sie sind alle „big“. | |
Nach einem kurzen Vortanzen treten die Kandidatinnen in einem Dance Battle | |
gegeneinander an. Spätestens als Kandidatin Sydney nach einem Flickflack | |
aus dem Sprung heraus im Spagat landet, ist klar: In dieser Sendung soll es | |
nicht um die Frage gehen, ob dicke Menschen tanzen können, ob sie fit und | |
sportlich sein können – sondern eher, warum die Gesellschaft das bis heute | |
noch nicht verstanden hat. | |
## Lizzos Attitüde ist in der Show ähnlich wie in ihren Songs | |
Während zwei Frauen die Show nach den Dance Battles verlassen müssen, darf | |
eine Kandidatin direkt ein Teil der „Big Grrrls“ werden – sie ist einfach | |
zu gut. Die übrigen zehn kämpfen in den folgenden sieben Episoden darum, | |
beim „Bonnaroo Music and Arts Festival“ im Juni mit Lizzo auf der Bühne zu | |
stehen und langfristig Teil ihrer Tanzcrew zu werden. Jede soll in den je | |
rund einstündigen Episoden beweisen, dass sie die Kondition, die | |
sportlichen Fähigkeiten und das Gedächtnis hat, um sich schnell | |
Choreografien zu merken. | |
Die „Fuck the Haters“- und „I Love Myself“-Attitüde, die Lizzo in den | |
vergangenen Jahren in ihren Songs und auf der Bühne perfektioniert hat, | |
schlägt sich auch in der Sendung nieder. Es wird viel über [3][Body | |
Positivity, Selbstliebe und Repräsentation] gesprochen. Die Kandidatinnen | |
sind allesamt „bad bitches“ mit einer „beautiful soul“. Sie halten sich… | |
den Händen, stehen im Kreis, sie beten zu Gott. | |
Doch es wird nicht heile Welt gespielt. Manche teilen ihre | |
Familiengeschichten, in denen auch Obdachlosigkeit, Aufwachsen in Armut und | |
tödliche Polizeigewalt eine Rolle gespielt haben. Sie erzählen von | |
rassistischen, sexistischen oder dickenfeindlichen Erfahrungen, von Mobbing | |
und struktureller Diskriminierung, die sie erfahren haben. Und wie sich das | |
in der Tanzwelt ausgedrückt hat. | |
Die 33-jährige trans Tänzerin Jayla Sullivan erzählt, dass sie nie so | |
angenommen wurde, wie sie ist: „Vor meiner Transition war ich zu dick und | |
zu weiblich, dann habe ich meine Transition begonnen, und mein Körper war | |
immer noch dick. Also war ich zwar immer noch dick, aber dieses Mal zu | |
maskulin.“ Die Sendung gibt den Geschichten der Kandidatinnen Raum, ohne | |
sie darauf zu reduzieren. | |
Auch Lizzo wird persönlich. Während der Dreharbeiten veröffentlicht sie ihr | |
Musikvideo zu ihrer neuen Single „About Damn Time“. Ein Disco-Track, in dem | |
sie das Überleben nach so vielen schweren Traumata und Erfahrungen feiert. | |
Der Song steigt sofort weit oben in die Charts ein, die Kritiken sind gut – | |
doch wie immer, wenn Lizzo etwas veröffentlicht, sind die Kommentare auf | |
Youtube, Tiktok und bei Instagram auch beleidigend, diskriminierend, manche | |
strafrechtlich relevant. | |
Hass hört nicht auf, wenn man berühmt wird – im Gegenteil. Unter Tränen | |
erzählt sie den Teilnehmerinnen von den Kommentaren von ihrem Video und | |
sagt: „Es ist schwer, sich selbst zu lieben in einer Welt, die dich nicht | |
zurückliebt.“ Kurz darauf legt sie ihren Morgenmantel ab und twerkt in | |
Unterwäsche. Diese Mischung aus „I don’t give a fuck“-Haltung und dem Ra… | |
für Angst, Verletzungen und Tränen macht die Show so sehenswert. | |
Diese Mischung, die auch in den Songs von Lizzo zum Ausdruck kommt, hat | |
Lizzo zur Galionsfigur der Body-Positivity-Bewegung gemacht. Während der | |
Hass täglich auf sie einprasst, postet sie weiter fröhlich nackt für ihr | |
nächstes Instagram-Foto oder twerkt in einem Tanga. | |
## „Die Show muss weitergehen“ | |
Wer wie Lizzo als Heldin stilisiert wird, kann tief fallen. Und so wird die | |
Sängerin auch regelmäßig von den eigenen Fans kritisiert: Nach einer | |
zehn[4][tägigen Saft-Detox-Kur, die sie bei Instagram geteilt hatte, gab es | |
harsche Kriti]k. „Verrat“ wurde ihr vorgeworfen. Ähnlich war es, als sie | |
„Yitty“ vorstellte – ihr Unternehmen für Shapewear. Früher in Deutschla… | |
als „Bauchweg“- oder „Fettweg“-Unterwäsche bekannt, ist Shapewear in d… | |
vergangenen Jahren hip geworden. Als moderne Form der Korsetts soll es den | |
Körper in Form drücken. | |
Dass Lizzo Shapewear – wohlgemerkt bis Größte 6XL – auf den Markt bringt, | |
ist widersprüchlich. Denn wie geht das zusammen: Predigen, seinen Körper | |
lieben, wie er ist und dann Unterwäsche auf den Markt bringen, die einen | |
dünner und fitter aussehen lässt? Gegenüber der New York Times reagierte | |
Lizzo auf die Kritik: „Ich verkaufe die Mentalität: ‚Ich kann mich meinen | |
Körper machen, was ich will, tragen, was ich will, und mich dabei gut | |
fühlen.‘“ | |
Auch im Vorfeld der Castingshow kamen kritische Stimmen zu Wort, | |
schließlich haben diese keinen sonderlich guten Ruf. Gerade bei Shows wie | |
„Germany’s Next Topmodel“ zeigt sich, wie die Kandidatinnen als „Ware“ | |
behandelt werden und in absurden Prüfungssituationen gegeneinander antreten | |
müssen, damit das Publikum unterhalten wird. Sie müssen gängigen | |
Geschlechterklischees entsprechen, und regelmäßiges Bodyshaming gehört zum | |
Programm. Verschiedene Studien zeigen, dass es bei den Zuschauer*innen | |
[5][einen Zusammenhang zwischen der Sendung und Essstörungen gibt]. Ein | |
Zustand, der sich nicht dadurch beheben lässt, wenn auch ein paar „curvy“ | |
Models teilnehmen. | |
Vorwürfe dieser Art laufen bei „Watch Out for the Big Grrrls“ ins Leere. | |
Denn auch hier gibt es zwar Challenges und Aufgaben, doch sie dienen nicht | |
dazu, die Kandidatinnen zu erniedrigen. Viel mehr orientieren sie sich am | |
Alltag aus Lizzos Tänzerinnencrew: schnell eine neue Choreografie zu lernen | |
beziehungsweise selbst zu erarbeiten oder eine Treppe hinauf oder herunter | |
zu tanzen. | |
Als es zur „Umstyling“-Folge kommt, werden Kandidatinnen nicht – wie bei | |
GNTM – dafür bestraft, wenn sie mit den Ideen der Kreativen unzufrieden | |
sind. Sondern sie dürfen sich aussuchen, wie ihre „Stage Persona“ aussehen | |
soll. Als Kandidatin Isabell sich bei einem Nacktshooting nicht ausziehen | |
möchte, weil sie Angst hat, die Nacktbilder könnten ihren Plan B, Lehrerin | |
in Südkorea zu sein, zerstören – ist das total in Ordnung. | |
Dass die Branche aber trotz liebenswürdigem Umgang untereinander eine harte | |
ist, wird immer wieder klar: Als sich in der ersten Folge eine der Frauen | |
verletzt, sagt Tanzcoach Tanisha Scott, die auch schon mit Rihanna, Beyoncé | |
und Drake gearbeitet hat: „Wer sich verletzt, muss sich auskurieren. Doch | |
auch wenn es nach einem Klischee klingen mag: Die Show muss weitergehen. | |
Eine Tanzverletzung ist das Schlimmste, das dir passieren kann, denn du | |
kannst schnell ersetzt werden.“ | |
Und verletzt wird sich in der Show nicht nur einmal. Diese Härte der | |
Trainerin und auch der wechselnden Jury wirkt nicht wie Schikane, sondern | |
bereitet die Tänzerinnen auf die Realität vor – wie es aussehen könnte, | |
wochenlang mit Lizzo auf Welttournee zu gehen. | |
Mit „Watch Out for the Big Grrrls“ wird Lizzo weder die nächste Revolution | |
anzetteln noch die Welt retten. Es ist und bleibt Fernsehen. Doch wenn eine | |
Castingshow es schafft, dicken, Schwarzen oder/und trans Menschen ein | |
Gefühl der Repräsentation und Sichtbarkeit zu geben, ihnen das Gefühl zu | |
vermitteln: Es ist okay, dass ihr existiert und dass ihr Raum einnehmt, | |
dann ist das schon eine ganze Menge. Und selbst wenn das nicht bei jede*r | |
Zuschauer*in funktioniert: Gute Unterhaltung ist die Castingshow in jedem | |
Fall. | |
12 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Cuz-I-Love-You-von-Lizzo/!5606219 | |
[2] https://www.amazon.com/Lizzos-Watch-Out-Big-Grrrls/dp/B09KFFG2F9 | |
[3] /Forscherin-ueber-Body-Positivity/!5823759 | |
[4] /Body-Positivity-und-Rapperin-Lizzo/!5733928 | |
[5] /Essstoerung-auch-wegen-Klum-Sendung/!5299233 | |
## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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