# taz.de -- Kinotipp der Woche für Berlin: Alltag und Offenheit | |
> Sebastian Heidingers Metier war das dokumentarische Kino. Das Arsenal | |
> zeigt Filme des jung verstorbenen Regisseurs und ein Projekt in den | |
> Anfängen. | |
Bild: Regisseurin und Polizistin: Saba Sahar in Sebastian Heidingers Doku “Tr… | |
Sie nehmen harte Drogen, prostituieren sich und sind doch noch Kinder, die | |
“Drifter“, die Sebastian Heidinger in seinem gleichnamigen Dokumentarfilm | |
aus dem Jahr 2007 portraitiert. Er folgt seinen drei Protagonist:innen | |
Aileen, Angel und Daniel mit der Kamera überall hin, sitzt mit ihnen in der | |
U-Bahn, beim Arzt oder in der Wohnung. Und doch scheint er irgendwie | |
unsichtbar zu sein, denn man merkt den dreien an keiner Stelle an, dass sie | |
sich beobachtet fühlen könnten. | |
Sie reden frei drauflos, unterhalten sich über Freier und die Konkurrenz | |
aus dem Ausland, die auf dem Strich die Preise drücken würde. Und zeigen | |
intimste Eindrücke aus ihrem ganz normalen Alltag zwischen Drogen nehmen | |
und Essen zubereiten. Man erlebt drei Jugendliche hautnah in einem kalten | |
und gesichtslosen Berlin, die ein Leben leben wie die Kinder vom Bahnnhof | |
Zoo in “Christiane F.“, nur ohne den kaputten Glamour und David Bowie. Die | |
drei haben eigentlich noch ihr ganzes Leben vor sich, gleichzeitig wirken | |
sie aber so unendlich verloren und hoffnungslos. Und doch halten sie | |
zusammen, unterstützen sich gegenseitig, geben einander Wärme. | |
„Drifter“ (2007) ist, neben „Traumfabrik Kabul“, einer der beiden | |
Dokumentarfilme, die der Regisseur Sebastian Heidinger fertigstellen | |
konnte. Im letzten Jahr ist er überraschend im Alter von 42 Jahren | |
gestorben. Jetzt zeigt das [1][Arsenal die beiden Werke] noch einmal, | |
begleitet von seinem Kurzfilm „Lichtenberg“ (2004) und Recherchematerial | |
für sein begonnenes Filmprojekt „Die Ochserer“ über bäuerliche Tradition… | |
in Bayern, das er nicht mehr vollenden konnte. | |
## Heldinnen des afghanischen Kinos | |
Heidingers anderer Film heißt “Traumfabrik Kabul“ (2011) und ist nicht | |
minder eindrucksvoll als “Drifter“. Vor allem ist es natürlich noch einmal | |
höchst interessant, aus heutiger Perspektive und nach der erneuten | |
Machtübernahme der Taliban in Afghanistan auf diesen 2011 entstandenen Film | |
zu blicken. Heidinger widmet sich in diesem einer ganz ungewöhnlichen Frau: | |
der [2][Polizistin, Schauspielerin und Regisseurin Saba Sahar]. Diese ist | |
eine der wenigen Frauen, die in dieser Zeit, in der man in Afghanistan noch | |
von ein wenig Freiheit träumen durfte, als Gesetzeshüterin arbeitet. | |
Nebenbei hat sie aber noch einen ganz anderen Job: Sie dreht Filme. Besser | |
gesagt: Martial-Arts- und Action-Filme. Der Clou in diesen ist, dass immer | |
Frauen die Heldinnen sind. Sie bezwingen Selbstmordattentäter und bestrafen | |
Männer, die Frauen belästigen oder ihre Ehefrauen schlagen. In einer | |
zutiefst patriarchalen Gesellschaft sind bei Sahar die Frauen die Starken | |
und Gerechten und hinter jeder Figur kann eine Superheldin stecken, was | |
ihren Filmen enorme politische Sprengkraft verleiht. | |
Sahar ist eine Aktivistin mit Kamera. Sie ist eine | |
Independent-Filmemacherin, die mit Low Budget arbeitet und kaum mal eine | |
Förderung bekommt. Sie wird nicht auf Filmfestivals eingeladen, versucht | |
aber dennoch um jeden Preis, dass Frauen ihre Filme zu sehen bekommen, | |
erhofft sie sich davon doch eine empowernde Wirkung. | |
Dankenswerter Weise zeigt Heidinger auch einige Ausschnitte aus diesen | |
Filmen, in denen Laiendarsteller dilettieren und hanebüchene Dialoge | |
gesprochen werden. Man sieht waschechte B-Movies, die unterhalten, aber | |
eben auch die Message verbreiten wollen: Frauen, wehrt euch! | |
Diese “Traumfabrik Kabul“ gibt es nun nicht mehr. Afghanische | |
Filmemacherinnen, die sich für Frauenrechte einsetzen, sind verschwunden. | |
Und [3][Polizistinnen dulden die Taliban auch keine mehr]. Das Afghanistan, | |
das man bei Heidinger sieht, in dem noch gehofft und für ein besseres Leben | |
gekämpft wird, ist scheinbar Geschichte. | |
27 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.arsenal-berlin.de/kino/filmreihe/beharrliche-offenheit-die-film… | |
[2] https://www.theguardian.com/film/2012/apr/22/afghan-films-saba-sahar-women-… | |
[3] https://www.theguardian.com/global-development/2020/dec/24/i-am-not-afraid-… | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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