# taz.de -- Sich selbst neu erfinden: Die Traurigkeit des Abschieds | |
> Beim Umzug lässt man nicht nur schmutzige Tapeten, sondern auch | |
> Lebensabschnitte zurück. Doch der Ethikrat hat kein Verständnis für | |
> Abschiedswehmut. | |
Bild: Kampf der Wegwerfgesellschaft – ewiges Leben für die Sandförmchen | |
Weil wir umziehen, hat mein Freund den Dachboden entrümpelt. Alles, was | |
weggeworfen werden sollte, trug er zu einem großen Haufen in der Mitte | |
zusammen. In einem unbeobachteten Moment stieg ich nach oben und klaubte | |
einen alten Latz daraus hervor, den ich zur Geburt eines der Kinder | |
bekommen habe, ein paar Kinderpuzzle-Teile sowie zwei selbst gebastelte | |
Adventskalender in Form von Tannen, deren Spitzen die Jahre geknickt haben. | |
Ich verstehe die Leichtigkeit nicht, mit der sich Menschen von Dingen | |
trennen. Es ist, als trenne man sich von den eigenen Jahresringen. | |
Später am Abend ging ich zur nächsten Tauschbox, weil ich auf dem Haufen | |
noch Sandförmchen und Pixi-Bücher gefunden hatte, die ich aus Protest gegen | |
die [1][Wegwerfmentalität] meines Freundes aus dem Abfall herausfischte. In | |
der Tauschbox rumpelte es, dann öffnete sich die Tür und der Ethikrat trat | |
heraus. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die | |
mir gelegentlich [2][Hinweise in Fragen praktischer Ethik] geben. Der | |
Vorsitzende des Rats trug einen Instrumentenkoffer, die beiden anderen | |
Ratsmitglieder kamen jedes mit einer Schreibmaschine unter dem Arm hinter | |
ihm her. | |
„Guten Abend“, sagte ich, „eröffnen Sie ein Schreibbüro?“, denn ich w… | |
dass der Rat stets an neuen Geschäftsmodellen interessiert ist. „Sicherlich | |
nicht“, sagte der Vorsitzende, „die Zukunft liegt nicht im Papier.“ „Wo | |
liegt sie denn?“, fragte ich gereizt, denn sie findet sich mit großer | |
Zuverlässigkeit dort, wo ich nicht bin. „Sie liegt in der Bewegung“, sagte | |
der Vorsitzende, während er versuchte, die rostigen Schnallen des | |
Instrumentenkoffers zu öffnen. „Wieso ist Bewegung ein Selbstzweck?“, | |
fragte ich. „Alle fünf Jahre eine neue Wohnung, eine neue Stadt, eine neue | |
Stelle, eine neue Beziehung – was ist daran so erstrebenswert?“ | |
Was ich nicht sagte, war, dass ich jahrelang eine neue Wohnung gesucht | |
hatte und nun, da wir gegen jede Wahrscheinlichkeit eine gefunden hatten, | |
plötzlich nur noch sah, was ich an Vertrautem verlor – und sei es den | |
graulockigen Nachbarn von nebenan, dessen Namen ich nicht kannte, der aber | |
mit unerklärlicher Freundlichkeit grüßte. Oder den Zug von Schulkindern, | |
die wie ein Ameisenvolk jeden Morgen die Straße entlangliefen und … Der | |
Ratsvorsitzende unterbrach meine Überlegungen. | |
## Staubwolke aus Dynamik | |
„Sicher ist Ihnen bewusst, dass der philosophische Blick sich von den | |
Gefühlen des Betrachtenden löst“, sagte er. „Ich möchte mich gar nicht v… | |
meinen Gefühlen lösen“, unterbrach ich pampig. „Im Gegenteil. Es imponiert | |
mir überhaupt nicht, wenn die Leute so tun, als erfänden sie sich im | |
kapitalistischen Sieben-Jahres-Plan neu und streiften ihre Vergangenheit ab | |
wie die Raupen ihre Kokons. Tatsächlich ist das doch nur eine Verneinung | |
der eigenen Sterblichkeit, die sich mit einer Staubwolke aus Dynamik und | |
Feng-Shui-Eiteitei tarnt.“ | |
Nimm das, Ethikrat, dachte ich, aber der blieb unbeeindruckt. „Vielleicht | |
interessiert Sie unser neues Vorhaben“, sagte der Vorsitzende und entnahm | |
dem Instrumentenkoffer ein golden schimmerndes Horn, während sich die | |
beiden anderen Ratsmitglieder mit ihren Schreibmaschinen auf eine Parkbank | |
setzten. „Wir interpretieren das Helikopter-Streichquartett von Stockhausen | |
neu mit Schreibmaschine und Horn.“ | |
„Sozusagen eine zivil-vergeistigte Variante?“, fragte ich. „So ist es“, | |
sagte der Ratsvorsitzende zufrieden, „wir nennen sie,Freitag aus | |
Dämmerung'.“ Und er blies in das Horn, während die Schreibmaschinen | |
klapperten. Es klang schrecklich, aber hinter uns blieb jemand stehen und | |
warf eine Münze in den Instrumentenkoffer des Ratsvorsitzenden. Es war der | |
graulockige Nachbar. | |
27 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Halbe-Mehrwertsteuer-fuer-Schuster/!5360773 | |
[2] /Wieviel-Schlechtes-vertraegt-das-Gute/!5838136 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
## TAGS | |
Kolumne Ethikrat | |
Abschied | |
Altern | |
Hamburg | |
Kolumne Ethikrat | |
Stadtland | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Tennis | |
Kolumne Ethikrat | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Stadtreinigung entfernt Tauschbox: Abriss statt Kommunikation | |
Auf St. Pauli wurde eine Tauschbox ohne Ankündigung von der Hamburger | |
Stadtreinigung zerstört und entsorgt. Nun protestieren die Anwohner*innen. | |
Schule der Gefühle: Mitleid mit schlagenden Kindern | |
Sollte man sich zu Mitgefühl zwingen, wo keines ist? Der Ethikrat ist durch | |
ein Forschungsprojekt zur Verknappung von Spielzeug abgelenkt. | |
Ramadan endet – Zuckerfest beginnt: Happy Zuckerfest, Folks! | |
Warum sollten Muslime weniger ambivalent sein? Und weniger pseudo als | |
andere? | |
Leben ohne Auto: Kommt Zeit, kommt Rad | |
Mit drei Kindern und ohne PKW ist unsere Autorin in den Wald gezogen. Geht | |
das – ein Leben auf dem Land ohne Auto? | |
Ashleigh Barty hört auf: Andere Träume | |
Die Tennisweltranglistenerste Ashleigh Barty erklärt völlig überraschend | |
ihren Rücktritt. Die 25-Jährige spricht von Erschöpfung und neuen Plänen. | |
Eine Übung in Verzicht: Das Leben zum Alter hin | |
Was tut ihr mit eurem Leben, um im Alter mehr zu sein als nur eine welke | |
Blüte? Der Ethikrat schlägt Askese vor. |