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# taz.de -- Schule der Gefühle: Mitleid mit schlagenden Kindern
> Sollte man sich zu Mitgefühl zwingen, wo keines ist? Der Ethikrat ist
> durch ein Forschungsprojekt zur Verknappung von Spielzeug abgelenkt.
Bild: Knappe Ressourcen führen zu Konflikten – auch im Bereich von Sandspiel…
Kürzlich ging ich mit den Kindern auf den nahe gelegenen Spielplatz, um sie
auszulüften, und traf dort auf den Ethikrat. Der Ethikrat, das sind drei
ältere Herren von geringer Größe, die mir [1][gelegentlich Hinweise in
Fragen praktischer Ethik] geben. Zwei der Mitglieder gingen mit einer
großen Tasche durch den Sandkasten, während der Vorsitzende ein Kleinkind
auf einem hasenförmigen Hüpftier ansprach.
Ich ging näher. „Wie viele Sandschaufeln braucht man deiner Meinung nach?“,
fragte der Ratsvorsitzende. Das Kind betrachtete ihn düster. „Guten Tag“,
sagte ich, „machen Sie eine Umfrage?“
Der Ethikrat war finanziell oft angespannt, und ich hielt es nicht für
ausgeschlossen, dass er sich als Umfrage-Sklave verdingte. „Ja“, sagte der
Ratsvorsitzende und gab dem Hasen einen aufmunternden Schubs. „Wir sammeln
Daten für unsere Studie zu den Veränderungen im Empathieverhalten
angesichts der Verknappung von Ressourcen.“ Das düstere Kind stieg vom
Hasen ab und versuchte dabei dem Ratsvorsitzenden auf den Fuß zu treten,
aber der Vorsitzende übersah es souverän.
„Welche Ressourcen haben Sie dabei im Blick?“, fragte ich. „Da wir unsere
Frage auf die nachwachsende Generation beziehen, geht es natürlich um deren
Bezugsgegenstände“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte in Richtung der
anderen Mitglieder. Ich folgte seinem Blick und sah, wie sie Sandspielzeug
in ihre Tasche gleiten ließen. „Fürchten Sie nicht die Eltern?“, fragte i…
und deutete auf eine Elternansammlung, die neben Taschen voller Sonnencreme
und Knabberstangen auf einer Bankreihe saß.
## Die letzte Debatte mit Eltern
Die Eltern haben allen Anlass, sich über die Möglichkeit zu freuen, Teil
wissenschaftlichen Bemühens zu sein“, sagte der Ethikratsvorsitzende
selbstgewiss. Ich schwieg. „Wie steht es mit Ihnen“, fuhr er fort, „welche
Frage treibt Sie um?“ Das düstere Kind näherte sich und begann, mit einem
Bagger Sand in unsere Richtung zu werfen.
Ich dachte an meine letzte Debatte mit Eltern, in der es um ein nicht mehr
kleines Kind von Bekannten gegangen war, das regelmäßig andere Kinder
schlug. Eine Mutter hatte das angeprangert, woraufhin einer der Väter
gesagt hatte, dass er Mitleid mit dem Kind habe – schließlich könne es
nichts dafür, dass seine Eltern nicht einschritten, trotzdem müsse es mit
den unfrohen Reaktionen leben. „Das muss die Kita lösen“, sagte er.
Ich war einmal bei einer Veranstaltung des Weißen Rings gewesen, der
Vereinigung für [2][Opfer von Kriminalität], wo beklagt wurde, dass
unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit bei den Täter:innen und wenig bei
den Opfern sei. Aber vielleicht war hier nicht der Ort für kriminologische
Exkurse. „Ich habe kein Mitleid mit dem Kind“, sagte ich. „Und wenn der
Rest der Kitakinder inzwischen Angst hat, zur Kita zu gehen, dann ist das
irgendwann auch eine Abwägung, ob die Mehr- oder die Minderheitsinteressen
gewichtiger sind.“
„Ich sagte es und dachte, dass es mitleidslos-kalt klang, und versuchte es
noch ein bisschen mit allgemeinen Erwägungen zu bemänteln“, erklärte ich
dem Ratsvorsitzenden. „Dass man von außen nie wisse, was die Eltern
versucht hätten, und dass das die Schuldfrage unwägbar mache.“ Der
Vorsitzende griff beiläufig nach dem Bagger des düsteren Kindes und ließ
ihn hinter einen Mülleimer gleiten.
„Mir scheint Ihr Interesse an Ihrer Außenwirkung unverhältnismäßig“, sa…
er. „Haben Sie berücksichtigt, dass es unerheblich sein könnte, ob Sie
Mitleid haben?“ „Nein“, sagte ich, „warum?“ Aber da begann das düste…
ein großes Geheul, und ein großer, dicker Mann erhob sich von der
Elternbank.
24 May 2022
## LINKS
[1] /Sich-selbst-neu-erfinden/!5846126
[2] /Opferschutzbeauftragter-ueber-seinen-Job/!5782391
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kolumne Ethikrat
Schwerpunkt Stadtland
Mitleid
Kolumne Der rote Faden
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