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# taz.de -- Zensur in Russland: Der Krieg um die Köpfe
> Unabhängiger russischer Journalismus kann auch im Krieg nicht begraben
> werden. Wird ihm ein Kopf abgeschlagen, entsteht wie bei einer Hydra ein
> neuer.
Bild: Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow im Dezember 2021 vor Titeln der …
Seit Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine haben die
russischen Zensurbehörden mehr als 40 Redaktionen geschlossen oder zur
Schließung gezwungen. Das reicht von großen landesweiten Medien wie Nowaja
Gaseta, Meduza oder Echo Moskwy über kleine wie iStories und Holod bis hin
zu unabhängigen Regionalmedien wie 7x7 oder dem Studentenmagazin DOXA.
Websites werden blockiert, Russlands ältester unabhängiger Radiosender Echo
Moskwy wurde vom Netz genommen. iStories wurde zur „unerwünschten
Organisation“ erklärt, was anders als das Etikett „ausländischer Agent“
strafrechtliche Verfolgung heißen kann. Der [1][Nowaja Gaseta] wurde zu
verstehen gegeben, dass die weitere Berichterstattung zum Lizenzentzug
führen werde.
Am neunten Tag des Krieges führte Präsident Wladimir Putin neben Gesetzen
zur Militärzensur auch zwei neue Vergehen ein: „Diskreditierung der
Handlungen der russischen Streitkräfte“ und „Aufruf zu Sanktionen gegen
Russland“.
Auch gibt es den neuen Straftatbestand „Öffentliche Verbreitung falscher
Informationen über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte“. Am 5.
April kam ein Verbot der Verbreitung von „Fake News“ über Aktivitäten
russischer staatlicher Stellen im Ausland hinzu.
Das Menschenrechtsprojekt OVD-info schätzt, dass seit Beginn der
Militärzensur 1.000 Personen unter die neuen Verbote gefallen sind und 30
strafrechtlich verfolgt wurden.
## Stille Protestform mit „Preisschildern“ im Supermarkt
Prominentester Fall ist Sasha Skotschilenko, eine 30-jährige Künstlerin und
Autorin. Sie hatte sich der in Russland beliebten stillen Protestform
angeschlossen, Preisschilder an Supermarktwaren durch Zettel mit Infos über
die Opfer der russischen Armee in der Ukraine zu ersetzen. So werden Kunden
direkt informiert und auch ältere Bürger, deren einzige Informationsquelle
oft das Staatsfernsehen ist.
Skotschilenko drohen bis zu 10 Jahre Haft. „Meine Ankläger bekommen einen
mickrigen Bonus, während ich Unsterblichkeit und einzigartige
Gefängniserfahrung erhalte, von der ich der Welt in lebhaften Farben
berichten kann“, schreibt sie unbeugsam aus dem Gefängnis.
Nachdem die Behörden ihre Offensive gegen die großen unabhängigen Medien
geführt und viele Journalisten zur Flucht gezwungen hatten, begann die
Verfolgung von Redakteuren kleinerer Medien in der Provinz.
## Bericht über Befehlsverweigerung und Ausrüstungsmängel
So wurde der Chefredakteur von Nowij Fokus, Mikhail Afanasjew, aus der
sibirischen Republik Chakassien verhaftet. Er hatte über Soldaten
geschrieben, die den Einsatz in der Ukraine verweigerten, und soll dabei
angeblich über die „unzureichende materielle Unterstützung“ der Armee
gelogen haben.
Da die unabhängigen Medien jetzt nicht mehr einfach zugänglich sind,
scheint die Fernsehpropaganda des Regimes die Oberhand zu gewinnen. Putin
hat in den letzten 22 Jahren die Sender systematisch von unabhängig
denkenden Menschen gereinigt. Und die Propaganda hat wohl sogar die
Propagandisten selbst überzeugt.
Wie etwa Wladimir Solowjow, Hauptstimme des Kremlfernsehens. 2008 vertrat
er noch eher unabhängige Ansichten, was ihn populär machte. Er sagte: „Es
wird nie Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben. Denn jeder, der
ernsthaft eine solche Tat begehen will, ist ein Verbrecher.“ Doch nun
widmet Solowjow seine Sendezeit Aufrufen zur Ermordung „ukrainischer Nazis“
und stellt die Existenz einer unabhängigen Ukraine infrage.
Doch die Propaganda verliert angesichts des echten Kriegs ihre Wirkung.
Dies zeigt sich etwa daran, dass laut dem Finanzministerium die Mittel für
das staatliche Fernsehen im März stark erhöht wurden, als sich die ersten
militärischen Niederlagen nicht mehr verbergen ließen.
## Alte Zensurmethoden funktionieren nicht mehr
Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stiegen die Ausgaben für die staatlichen
Medien von Januar bis März um fast 300 Prozent, für den Militärhaushalt um
11 Prozent. Demnach scheint Russland eher über das Fernsehen einen Krieg um
die Köpfe seiner Bürger zu führen als mit dem Militär um die Ukraine.
Alte Zensurmethoden funktionieren im Jahr 2022 nicht mehr. Journalisten
sind an die Sperrung von Webseiten gewöhnt und haben sich und das Publikum
darauf vorbereitet. Noch Anfang Februar waren in Russland Zoom, Telegram,
WhatsApp, TikTok und Instagram die fünf am häufigsten heruntergeladenen
Apps. Jetzt sind VPN-Dienste auf den ersten fünf Plätzen. Die Menschen
wollen Informationen. Altmodische Verbote können das kaum verhindern.
Laut Natalja Sindejewa vom aufgelösten TV-Sender Dodschd wird ihre
Redaktion bald außerhalb des Landes die Arbeit wieder aufnehmen. Der
geschlossene Radiosender Echo Moskwy sendet weiter auf Youtube. Die
[2][Nowaja Gaseta] war durch Druck von Roskomnadsor gezwungen, die Arbeit
einzustellen. Zwei Verwarnungen können zum Entzug der Lizenz und einem
Druckverbot führen.
## Wie mit Blut geschrieben
Das wäre eine Tragödie. Denn in Russland haben Gefangene und ältere
Menschen manchmal nur eine einzige Informationsquelle – eine gedruckte
Zeitung. Als einzige ist die Nowaja Gaseta unabhängig. Solange es in
Russland Gefängnisse gibt, müssen wir eine Zeitung machen, sagen wir oft in
der Redaktion.
Bisher sind sechs unserer Mitarbeiter ermordet worden. Vieles ist
buchstäblich mit Blut geschrieben. Deshalb fiel es den Veteranen des
Blattes natürlich sehr schwer, die Produktion einzustellen.
Eine Warnung von Roskomnadsor kam übrigens kurz nach der Ankündigung von
Chefredakteur [3][Dmitrij Muratow], dass er die Medaille seines ihm im
Dezember 2021 verliehenen Friedensnobelpreises verkaufen und das Geld
ukrainischen Flüchtlingen spenden wolle.
Doch ein Teil des Teams der Nowaja Gaseta schreibt weiter, jetzt für die
Novaya Gaseta Europe im Ausland. Wir suchen und finden Wege zur
Wiedergeburt.
Der russische Journalismus kann auch in Kriegszeiten nicht begraben werden.
Wir sind eine Lernäische Hydra. Wird ein Kopf abgeschlagen, lernen wir, an
seiner Stelle einen neuen wachsen zu lassen.
Der Autor ist Nachrichtenchef der Nowaja Gaseta
Dieser Text ist Teil einer Beilage der taz Panter Stiftung und von Reporter
ohne Grenzen in der taz vom 3. Mai 2022, dem Internationalen Tag der
Pressefreiheit.
3 May 2022
## LINKS
[1] /Pressefreiheit-in-Russland/!5844390
[2] /Redaktionsbesuch-in-Moskau/!5805640
[3] /Friedensnobelpreistraeger-Dmitri-Muratow/!5804665
## AUTOREN
Nikita Kondratjew
## TAGS
Schwerpunkt Pressefreiheit
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
Wladimir Putin
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Propaganda
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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