| # taz.de -- Tankgutscheine und bloß keine Waffen: Ewiggestrig war gestern | |
| > In Zeiten von Krieg und Krisen gerät sicher Geglaubtes durcheinander. | |
| > Doch reflexhaftes Reagieren – siehe FDP – ist keine Lösung. | |
| Bild: Demonstranten fordern Ende der Abhängigkeit von fossiler Energie als Ant… | |
| Ein Sonntag in der idyllischen Altstadt von Göttingen. In den Straßencafés | |
| der Universitätsstadt sonnen sich die Menschen. Durch die Fußgängerzone | |
| zieht an ihnen eine kleine Demonstration von Schwarzgekleideten vorbei. Und | |
| ruft unter anderem den guten alten Slogan der Antifa: „Deutsche Waffen, | |
| deutsches Geld morden mit in aller Welt.“ | |
| Die Leute lecken ihr Eis, trinken ihren Kaffee und ignorieren den Aufzug | |
| zum größten Teil. Aber die Parole klingt seltsam in einer Zeit, wo der | |
| ukrainische Präsident Wolodomir Selenski fast täglich um deutsche Waffen | |
| fleht – um das Morden der russischen Truppen zu stoppen, [1][die in seinem | |
| Land auch Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser, Flüchtingstrecks und | |
| Supermärkte bombardieren]. | |
| Der Begriff „Ewiggestrige“ war in meiner Vorstellungswelt bislang klar | |
| zugeteilt: Das waren Leute, die die Oder-Neiße-Linie nicht als deutsche | |
| Ostgrenze akzeptierten, Frauen an den Herd fesseln und die Prügelstrafe in | |
| der Schule wiederhaben wollten. Wen wir „ewiggestrig“ nannten, den fanden | |
| wir ignorant, engstirnig, spießig, reaktionär, der wehrte sich gegen die | |
| Realität. | |
| Dieser Krieg bringt auch das durcheinander. Plötzlich sind manche Linke die | |
| neuen Konservativen: Die Parolen der DemonstrantInnen in Göttingen halten | |
| jedenfalls daran fest, dass die Deutschen, ihr Kapital und ihre Waffen | |
| immer und überall die Bösen sind. Dass der Überfall Russlands manche dieser | |
| Annahmen infrage stellen könnte, kommt in diesem Weltbild offenbar nicht | |
| vor. Andere denken, dass unsere Waffen in Konflikten nichts zu suchen haben | |
| – wie die Ampelregierung bis zum 24. Februar. Wer so denkt, für den | |
| bedeutet die von Olaf Scholz propagierte „Zeitenwende“ wohl auch nur die | |
| Umstellung der Küchenuhr auf Sommerzeit. | |
| Vielleicht liegt es ja daran: Große Veränderungen machen Angst. Da bleiben | |
| wir lieber beim Altbekannten und tun das Reflexhafte: Wenn die Benzinpreise | |
| stark steigen, [2][fordert die FDP Tankgutscheine], auch wenn das unsozial | |
| ist und die Preise noch weitertreibt. Wenn Öl und Gas teuer werden, | |
| [3][wollen wir den Armen mehr Geld dafür geben] (was richtig ist), ohne | |
| ihren langfristigen Energieverbrauch etwa durch Subventionen für neue | |
| Kühlschränke oder Tipps für anderes Heizen zu senken (was falsch ist). | |
| Wenn wir Angst bekommen, dass 30 Jahre einträchtige Energiepolitik von | |
| CDU/CSU und SPD uns der Gnade eines Kriegsverbrechers ausgeliefert haben, | |
| suchen wir nach anderen Despoten, die uns fossile Folterwerkzeuge für die | |
| Umwelt liefern, statt erst mal die Heizung runterzudrehen und ein | |
| [4][Tempolimit] zu beschließen (hello again, FDP!). | |
| Wenn das fossil-nukleare System endlich wackelt, wünschen wir uns lieber | |
| längere AKW-Laufzeiten, anstatt endlich mal bei der Energiewende richtig | |
| Biogas zu geben, die Öl- oder Gasheizung für eine neue Wärmepumpe | |
| rauszuschmeißen und eine PV-Anlage aufs Dach zu setzen. Wir sind mit allem, | |
| was wir haben, im Gestern verhaftet. Schlechte Nachrichten für alle, die an | |
| einer wie immer gearteten „Revolution“ arbeiten wie das aufrechte schwarze | |
| Häufchen in der Altstadt von Göttingen. | |
| Einen Tag später höre ich dann dem großen alten Mann des deutschen | |
| Naturschutzes, Michael Succow, zu. Er schildert mit Wehmut, welche Vielfalt | |
| an Pflanzen und Tieren im Oderbruch und im Boddengewässer über die letzten | |
| 50 Jahre verloren gegangen ist. Am nächsten Tag erzählt ein Freund das | |
| Gleiche von der Elbe – früher Fischreichtum, heute Schlickwüste durch die | |
| Ausbaggerei. | |
| Ich lese die Berichte, wie sich in den letzten Jahren die Plastikpest über | |
| die ganze Welt verbreitet hat. Ich registriere routiniert die Daten über | |
| den Dürremonat März und Temperaturrekorde in Arktis und Antarktis, die uns | |
| weit wegführen vom verträglichen Klima der Vergangenheit. Hier gibt es sie | |
| wirklich noch: die vielleicht nicht gute, aber bessere alte Zeit. | |
| Und ich merke: Am liebsten wäre ich ein Ewigvorvorvorgestriger. | |
| 1 Apr 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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