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# taz.de -- Die Wahrheit: Rohdiamanten des Irrsinns
> Im Alltag beim Yoga am Karma feilen, kann den Hass besiegen. Muss aber
> nicht sofort sein, hat noch Zeit, kann warten …
Bild: „Kleiner Blitz mit Knicks“: Yoga-Stellung am Strand
Mein lieber Schwan, vor meinem Haus ist mal wieder fett was los. Kein
Wunder, dass ich angesichts dieses vom Teufel subventionierten
Straßentheaters nie zum Arbeiten komme. Meist ist irgendein vollkommen
irres Geschrei der Auslöser, und schon wieder muss ich auf den Balkon
rennen und runterglotzen.
So zieht seit einer Woche jeden Nachmittag zwischen vier und halb fünf ein
großer Mann mittleren Alters, die rechte Faust zornig in die Luft stoßend
und dabei in regelmäßiger Frequenz laut „Allah“ rufend, vorüber. Ich fü…
mich an Fernsehbilder von fanatischen Massen erinnert, die unter
hasserfülltem Gebrüll vor Botschaftsgebäuden Landesfahnen und Stoffpuppen
in Gestalt prominenter Politiker verbrennen.
Ein wesentlicher Unterschied liegt allerdings darin, dass er nicht
Zehntausende ist, sondern nur einer, was seinem Auftritt in meinen Augen
ein Plus an Credibility und grundauthentischer Weirdness verleiht, denn in
dem Moment, wo das alle machen würden, wäre es ja viel einfacher: kein
Risiko, keine Distinktion, keine Kunst.
Er aber exponiert sich kühn vor den Augen einer ohnehin oftmals feindselig
gesonnenen Mehrheitsgesellschaft. Das ist schon deutlich cooler. Den
Entgegenkommenden schenkt er dabei nicht die geringste Beachtung, und sie
tun es ebenfalls nicht, von wenigen Erschrockenen abgesehen, aber die sind
bestimmt nicht von hier.
Und schon wieder gibt es Geschrei. Eine Passantin mit zwei sinnlos
lärmenden kleinen Kötern latscht rücksichtslos auf den Radweg und um ein
Haar in eine Radfahrerin hinein, die den Anfängerinnenfehler macht, sich
höflich zu beschweren. Das hätte sie mal nicht tun sollen, denn nun wird
sie von der Hundefrau mörderisch niedergekrischen, mit der Leine bedroht
und als Schlampe beschimpft, während die debilen Mikroorganismen wütend
dazu kläffen. Entnervt sucht die Radlerin das Weite, derweil ihre Gegnerin
den Sieg auskostet, indem sie ihr noch ein „Du Sau, du Fotze!“ hinterher
keift.
## Giftige Gedankenpflanze
Der Gedanke, den ich daraufhin hege wie ein giftiges Sumpfpflänzchen, ist
in etwa folgender: Hoffentlich stirbt diese unglaublich böse Frau recht
bald.
Doch sofort gilt mir dieser Gedanke als nicht zu unterschätzender Hinweis
darauf, dass ich ruhig noch mal ein bisschen an meinem Karma feilen könnte.
Obwohl mein Karma durchaus Potenzial hat, ist es bislang eher eine Art
Rohdiamant, der noch ganz tief in der Scheiße vergraben liegt.
Schade, dabei mache ich doch regelmäßig Yoga. Zwar in erster Linie wegen
meines kaputten Rückens, aber selbstverständlich habe ich mir davon
zugleich auch eine Schnellreinigung meiner schmutzigen Seele versprochen,
am besten noch mit Unterbodenschutz gegen fiese Gedanken. Doch statt beim
Shawarmasana richtig loszulassen, damit die positiven Energien weich durch
sämtliche Chakren strömen können, nutze ich die Entspannungsübung
regelmäßig dazu, mit knirschenden Zähnen meine Feinde zu verfluchen und
noch mehr Probleme zu wälzen als sowieso schon immer.
Ein leuchtendes Gegenbeispiel dieser destruktiven Attitüde ist unser
Vertretungs-Yogalehrer Gavinder. Ich fürchte, sein Karma-Level werde ich
niemals auch nur annähernd erreichen.
## Vibrationen einer Hexe
Als er neulich im Hof von der verhärmten Hausmeisterin des Yoga-Raums,
einer ähnlich bösen Frau wie der Hundehexe, ohne jeden Grund aufs übelste
angeblafft wurde, meinte er zu Beginn der Stunde nur, wir sollten die
Bedauernswerte mit in unsere Gedanken aufnehmen und ihr Good Vibrations
senden oder so – genau weiß ich es nicht mehr, ich war nämlich nicht dabei.
Aber es wurde mir erzählt.
Gewiss hätte Gavinder allein mit seinem sanften Blick die Frau auf dem Rad
mit der Hundebesitzerin versöhnt. Die Radlerin hätte die Hunde
gestreichelt, die nicht mehr gebellt hätten, sondern allenfalls leise
geschnurrt. Die Hundebesitzerin hätte die Fahrradreifen aufgepumpt. In dem
Moment wäre auch noch der fundamentalistische Schreihals vorbeigekommen,
hätte auf einmal den Schnabel gehalten und angefangen zu lächeln. Darüber
hätten die Wolken ein Peace-Zeichen geformt. Ein quergestreifter Gimpel
wäre herbeigeflogen und hätte sich auf Gavinders Schulter gesetzt. Und
Gavinder hätte bloß „Ommm“ gemacht.
Im Grunde ist das im geistigen Bereich eine Technik analog zum Aikido im
körperlichen. Denn wo im Aikido die Angriffswucht des Gegners mechanisch
umgelenkt und so für die eigene Verteidigung urbar gemacht wird, lässt die
Achtsamkeit der Yogis den Zorn der Frustrierten auflaufen und wandelt ihn
in Liebe um.
Da will und muss ich eines Tages irgendwie hinkommen. Zunächst mal hoffe
ich jedoch, dass die beiden Tölen überfahren werden. Hass ist eine Droge,
die man nur langsam und vorsichtig entziehen kann.
12 Apr 2022
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Yoga
Hass
Alltag
Tempolimit
Kolumne Die Wahrheit
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Lebensmittel
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Katholische Kirche
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