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# taz.de -- Alexei Nawalny schuldig gesprochen: Prozess im Paralleluniversum
> Ein Moskauer Gericht verurteilt den Kremlkritiker wegen angeblichen
> Betrugs zu neun Jahren Haft. Für die Richterin hat er nur verachtende
> Worte übrig.
Bild: Bild aus dem offiziellen Video des Prozesses gegen Nawalny am 15. März i…
Moskau taz | Alexei Nawalny hatte sich erhoben, sich kurz am Tisch
festgehalten. In seiner Gefängnisuniform, denn andere Kleidung war nicht
erlaubt, hatte er Sätze voller Verachtung an die Richterin gerichtet, die
das russische Justizsystem in aller Deutlichkeit beschreiben: „Finden Sie
es nicht selbst demütigend, so zu tun, als seien Sie Richter und
Staatsanwälte, und in Wahrheit sind Sie nur ein Gerät, das lediglich das
wiedergibt, was man Ihnen am Telefon mitgeteilt hat?“
Es war Nawalnys letztes Wort in einem konstruierten Verfahren wegen
Beleidigung und Veruntreuung an einem Moskauer Gericht. Am Dienstag, eine
Woche nach seinem gewohnt frechen Auftritt vor der Richterin, wird er genau
deswegen zu neun Jahren Haft verurteilt – als hätte tatsächlich jemand am
Telefon sein „O.K.“ gegeben.
Russlands bekanntester Oppositionspolitiker, der Hunderttausende
Unzufriedene quer durchs Land mobilisieren konnte, der einen Giftanschlag
mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok überlebt hat, sich aber nie hat das
Wort nehmen lassen, wird für weitere Jahre eingesperrt. Denn das russische
Regime duldet keine Kritiker*innen. Das Strafmaß wurde zunächst nicht
bekannt. Die [1][Staatsanwaltschaft hatte 13 Jahre] gefordert.
Gerichtsverfahren von Nawalny zu verfolgen, war schon immer eine schwierige
Angelegenheit. Die Justiz wählte oft enge Verhandlungsräume, ließ
Journalist*innen nicht in Gerichtsgebäude, schaltete auch gern eine
Live-Übertragung ein, doch die Monitore fielen aus „technischen Gründen“
auch schnell wieder aus. Zuletzt hatte es nur noch Gerichtsverhandlungen im
sogenannten „Außendienst-Modus“ gegeben: Prozesse hinter Gefängnismauern.
Auch an diesem Dienstag.
## 428 Tage Haft
In Pokrow, der Strafkolonie etwa 100 Kilometer von Moskau entfernt, hatten
die Justizbeamten eine Aula zum Gerichtssaal umbauen lassen. Ein paar Räume
weiter verbüßt Nawalny seine zweieinhalbjährige Strafe, weil er gegen
Bewährungsauflagen in einem früheren, ebenfalls absurden Verfahren,
verstoßen haben soll. Seit 428 Tagen sitzt der 45-jährige Jurist in Pokrow
ein.
Etwa hundert Journalist*innen hatten sich am Dienstag vor der Anstalt
eingefunden, in zwei Nebenräumen in der Nähe der Aula durften sie Platz
nehmen, vor Monitoren, die – nach Berichten aus Pokrow – immer wieder
ausfielen. Von Zeit zu Zeit sollen immer wieder Bild und Ton ausgefallen
sein. Doch Russlands Justiz nennt den Prozess „offen und transparent“.
Die Richterin Margarita Kotowa, die kurz vor dem Schuldspruch befördert
worden war, spricht gleich zu Beginn den Angeklagten für schuldig, danach
liest sie ihre Begründung ab – wie so oft entspricht sie auch diesmal fast
eins zu eins der Anklageschrift. Das Strafmaß wird erst am Ende der
Verhandlung bekannt, wie es in russischen Prozessen üblich ist. Nach
fünfeinhalb Stunden murmelt Kotowa leise: „Neun Jahre.“
Die beiden Fälle, in denen sich Nawalny verantworten muss, haben keine
Verbindung zueinander. Zum einen soll Nawalny, so ist das Gericht
überzeugt, umgerechnet vier Millionen Euro gestohlen haben, die Menschen an
[2][seine Antikorruptionsstiftung FBK] gespendet hatten. Vier angeblich
Geschädigte hatten gegen ihn ausgesagt, zwei davon standen zu der Zeit
selbst im Visier der Justiz.
## Repressionen nehmen zu
Die Stiftung ist mittlerweile aufgelöst. Die russische Justiz hatte sie als
extremistisch eingestuft, wie zuletzt auch Meta, den [3][Mutterkonzern von
Facebook und Instagram]. Damit ist dieser nun in Russland verboten. Der
zweite Fall bezog sich auf 104 Äußerungen Nawalnys bei einem früheren
Prozess, die das Gericht als beleidigend einstufte.
Alles, was das Regime in Moskau nicht hören und ertragen kann, wird derzeit
nach und nach aufgelöst. Andersdenkende nennt der russische Präsident
Wladimir Putin „Verräter und Abschaum“. Die Repression nach innen nimmt
weiter zu. Das Urteil gegen Nawalny, der nach dem russischen Angriff auf
die Ukraine von einem Zerfall Russlands spricht, passt in die hasserfüllte
Rhetorik eines Systems, das aus einer umgedeuteten Parallelrealität heraus
handelt, nicht nur in der Ukraine.
22 Mar 2022
## LINKS
[1] /Russland-geht-gegen-Kremlgegner-vor/!5842002
[2] /Repression-in-Russland/!5768705
[3] /-Nachrichten-zum-Ukrainekrieg-/!5842732
## AUTOREN
Inna Hartwich
## TAGS
Russland
Wladimir Putin
Kreml-Kritiker
Kolumne Grauzone
Alexei Nawalny
Alexei Nawalny
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
taz.gazete
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