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# taz.de -- Vor den Wahlen in Frankreich: Nicht für Le Pen, nicht für Macron
> Mit ihrem Protesten hat die Gelbwestenbewegung die Staatsmacht erzittern
> lassen. Wie aber wählen sie? Eines ist relativ klar: extrem.
Bild: Gelbwesten in Frankreich: Sie meinen, sie hätten nicht zu verlieren
Allone/Paris taz | Die Ein-Euro-Warnweste war 2019 noch ein wichtiges
Foto-Sujet für die Medien Frankreichs wegen der dazugehörigen Bewegung.
Inzwischen sind die [1][Gilets jaunes (Gelbwesten)] aus den Medien fast
spurlos verschwunden. Doch in zahlreichen Orten im Land, mehr oder weniger
weit vom Macht- und Entscheidungszentrum Paris entfernt, sind sie noch
anzutreffen: kleine Gruppen in grellgelben Westen, auf Verkehrskreiseln,
den Rond-points, hinter Autobahnausfahrten oder vor Ortseingängen. In
Allonne beispielsweise, einem Vorort der Provinzstadt Beauvais in der
Picardie, treffen sie sich seit November 2018 dreimal in der Woche. Nur die
Pandemie hat für ein paar Monate ihre Aktionen unterbrochen.
Die Zeit scheint hier seit mindestens drei Jahren stehen geblieben zu sein.
Lkw-Fahrer und Automobilisten winken oder hupen als Zeichen der Solidarität
mit den auf Campingstühlen sitzenden und diskutierenden Menschen. Ihre Wut
auf Präsident Emmanuel Macron und über die als zu niedrig empfundene
Kaufkraft hat gerade wieder neue Nahrung bekommen, die Benzin- und
Dieselpreise sind massiv gestiegen. Das drückt sich auch auf den Schildern
und Anti-Macron-Plakaten aus, die am Fahrbahnrand stehen.
Wer hier protestiert, fühlt sich durch die von Macron personifizierte Elite
in Paris „verachtet“ wie eh und je. Jeder und jede hat zudem meist auch
noch persönliche Motive, um gegen die Staatsmacht aufgebracht zu sein: eine
sehr kleine Alters- oder Invaliditätsrente, Arbeitslosigkeit, hohe
Mobilitätskosten.
„Null Prozent!“, antwortet lachend Michel Audidier auf die Frage, wie viele
Stimmen der Kandidat Macron wohl hier bekommen werde. Und nein, dafür werde
das Kreuzchen nicht bei der extremen Rechte gemacht. „Diese Leute sind zu
Beginn aufgetaucht, natürlich haben sie versucht, uns zu
instrumentalisieren. Aber als sie gemerkt haben, dass es hier nichts zu
holen gibt, sind sie rasch verschwunden“, erzählt der 66-jährige Rentner,
der früher kaufmännischer Angestellter war. Er war von Anfang an bei den
Demonstrationen in der Provinz und in Paris dabei. Schwer enttäuscht hat
ihn, dass die Gewerkschaften die Gelbwesten nicht unterstützt haben.
Von seinen Mitstreiter*innen in Allonne sagt er: „Sie stehen politisch
nicht wirklich links, aber von den etwa 30 werden jetzt 20 für das Programm
Avenir commun von Jean-Luc Mélenchon stimmen. Nicht für den Kandidaten,
sondern für sein Programm, weil darin eine ganze Reihe unserer Forderungen
aufgenommen ist, was bei den anderen nicht der Fall ist.“
Mit einem Dutzend anderer aus der Gegend von Beauvais ist er darum am 20.
März zu Mélenchons Wahlkundgebung auf dem République-Platz gekommen. Für
seine Gruppe komme es nicht infrage, dass wie schon 2017 nur noch zwischen
Macron und Le Pen gewählt werden könne. „Weder Pest noch Cholera“ lautet
darum die Überschrift eines kleinen Manifests, das sie dazu verfasst haben.
Mélenchon erscheint ihnen als die einzige „nützliche Wahl“.
[2][Mélenchon] hat 2017 die Bewegung La France insoumise (Unbeugsames
Frankreich) gegründet. Er tritt nun schon zum zweiten Mal zu
Präsidentschaftswahlen an. In seinen Reden fordert er, die Abstimmung in
ein „Referendum“ über die Sozialpolitik und ein Plebiszit gegen Macron zu
verwandeln. Wer (wie er) für das Renteneintrittsalter von 60 Jahren – und
nicht erst 65 (wie dies Macron und die Rechte vorschlagen) – und staatlich
festgelegte Preise für Treibstoff und Grundnahrungsmittel sei, solle dies
mit dem Wahlzettel kundtun.
An die Gelbwesten gerichtet verspricht er zudem eine „Amnestie“ für alle,
die während der Demonstrationen wegen Sachbeschädigung oder Gewalt gegen
Polizeibeamte verurteilt wurden. So weit geht nicht einmal Marine Le Pen.
Trotz anfänglicher Sympathien für die Gelbwesten unterstützt sie die
Repression.
Die Parolen von den „Rond-points“ hallen inzwischen bis in den Élysée. Die
maßlos gestiegenen Preise für Erdölprodukte und die Inflation werden auch
dort als massives Problem gesehen. Macrons Regierung hat eine Senkung der
Benzin- und Dieselpreise um 18 Cent an der Tankstelle ab 1. April
angekündigt. Der Präsident befürchtet, dass die Gelbwesten oder eine
ähnliche Bewegung ihn erneut vor Probleme stellen könnten.
Damit rechnet auch der Politologe Christian Le Bart vom [3][Institut
d’études politiques] in Rennes. Er schreibt jüngst in seiner Studie „Peti…
sociologie des gilets jaunes“ (Kleine Soziologie der Gilets jaunes): „Das
Problem der Kaufkraft ist bei Weitem nicht gelöst. Mit denselben oder
anderen Leuten kann das neu losgehen. Die Gilets jaunes haben in der
öffentlichen Meinung einen starken Eindruck hinterlassen, der trotz der
gewaltsamen Ausschreitungen ziemlich positiv geblieben ist.“
„Hunderte wurden zu Haftstrafen verurteilt, Hunderte wurden verletzt. All
das für nichts? Politisch hat sich gar nichts geändert, das System ist bloß
noch schlimmer als vorher“, meint der Kleinunternehmer Fabrice Grimal in
„Une année en jaune“ (Ein Jahr in Gelb), seiner Bilanz als einer der
Anführer der Gilets jaunes. Er wollte selbst bei den Präsidentschaftswahlen
antreten, scheiterte aber daran, die für die Kandidatur erforderlichen 500
Unterschriften von gewählten Volksvertreter*innen zusammenzubekommen.
Grimal steht für den Teil der Gelbwesten, die den Protest auch gegen die
staatlichen Anti-Corona-Restriktionen ausgeweitet haben und gegen
Gesundheitspass wie die Impfpflicht für das Gesundheitspersonal
demonstrierten.
Nicht nur ideologische Impfgegner, auch die rechtsextreme Partei Les
Patriotes versuchten, die Kundgebungen zu vereinnahmen, zum Teil
erfolgreich. Jacline Mouraud, die sich zu Beginn der Gelbwesten-Proteste in
den Medien als Repräsentantin vordrängte, dann aber schnell isoliert wurde,
tritt heute als Rednerin auf den Wahlveranstaltungen des rechtsradikalen
Kandidaten Eric Zemmour auf.
Geblieben ist bei den „Ehemaligen“ und den weiterhin wie in Allonne
Demonstrierenden ein tief sitzendes Ressentiment gegen Macron, aber auch
die Erfahrung, dass sich die so selbstherrlich wirkende Staatsmacht
erschüttern lässt. „Das hat diese Leute, die anfänglich nicht politisiert
waren, verändert. […] Ich weiß nicht, ob das morgen wieder losgeht oder wer
die Führung dann übernimmt. Doch der harte Kern existiert, wir sind
organisiert, ohne Chefs, aber doch organisiert“, sagt Grimal und
prophezeit: „Die Revolution beginnt mit einer Dosis an Spontaneität.“
3 Apr 2022
## LINKS
[1] /Gelbwesten-Proteste-in-Frankreich/!5552816
[2] /Wahlkampf-der-franzoesischen-Linksfront/!5098062
[3] https://www.univ-rennes.fr/membres/linstitut-detudes-politiques-de-rennes/
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
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