# taz.de -- Historiker über Pastoren in der NS-Zeit: „80 Prozent haben kolla… | |
> Helge-Fabien Hertz hat die Biographien aller evangelischen Pastoren | |
> untersucht, die in der NS-Zeit in Schleswig-Holstein gearbeitet haben. | |
Bild: Allseits akzeptiert: Propaganda-Aktion der Deutschen Christen zur Kirchen… | |
taz: Herr Hertz, wie regimetreu waren Schleswig-Holsteins evangelische | |
Pastoren im Dritten Reich? | |
Helge-Fabien Hertz: In meinem Promotionsprojekt habe ich bundesweit | |
erstmalig alle Pastoren einer Landeskirche untersucht: 729 | |
schleswig-holsteinische Geistliche. Diese Pastoren deckten ein breites | |
Spektrum an Positionierungen ab. Insgesamt kann man aber sagen, dass 80 | |
Prozent regimetreu waren und aktiv kollaboriert haben. | |
Woran haben Sie das festgemacht? | |
Ich habe einen Katalog aus 122 Kriterien entwickelt, der von | |
NSDAP-Mitgliedschaft über die „Einschwörung der Gemeinde auf das | |
Hitler-Regime“ bis zu „Antisemitismus“ reicht, aber auch das „Eintreten | |
gegen Antisemitismus“ umfasst. Anhand dessen konnte ich das NS-relevante | |
Verhalten ganzheitlich abdecken. | |
Welche Quellen haben Sie genutzt? | |
Vor allem Personal-, aber auch Entnazifizierungsakten, die Berliner | |
NSDAP-Mitgliederkartei, Nachlässe der Pastoren sowie Gemeindechroniken. | |
Außerdem habe ich 1.000 Predigten und Katechesen – Entwürfe für | |
Konfirmandenunterricht – ausgewertet. | |
Nehmen wir das Markanteste: Wie viele von ihnen waren Parteimitglieder? | |
40 Prozent der Pastoren waren in den Kern-Organisationen NSDAP, SA, SS. | |
Angesichts der Tatsache, dass Pastoren nicht in die Partei eintreten | |
mussten, um berufliche Vorteile zu haben, ist das eine auffallend hohe | |
Zahl. | |
Warum taten sie es dann? | |
Vermutlich aus Überzeugung. Die [1][Aufgeschlossenheit für den | |
Nationalsozialismus] war sehr groß. Denn Schleswig-Holstein war sehr | |
ländlich und protestantisch geprägt und damit tendenziell NS-affin, zumal | |
der Protestantismus nationalistischer orientiert war als der Katholizismus, | |
der mit der Zentrumspartei auch eine eigene Milieupartei hatte. | |
Protestanten sammelten sich vor allem in der Deutschnationalen Volkspartei | |
(DNVP) und später in der NSDAP. | |
Wobei der Nationalsozialismus ein „germanisches Heidentum“ predigte. Wie | |
brachten Pastoren das mit christlichen Inhalten zusammen? | |
Da muss man differenzieren. Natürlich war dieser dem Germanentum zugewandte | |
Flügel sehr stark. Das waren die Kreise um Heinrich Himmler und Baldur von | |
Schirach. Aber die NSDAP hatte auch einen christlichen Flügel. Adolf Hitler | |
war bis zuletzt Mitglied der katholischen Kirche und Hermann Göring hat | |
kirchlich geheiratet. Im NSDAP-Parteiprogramm war vom „positiven | |
Christentum“ die Rede. Da konnten Pastoren ideologisch durchaus andocken. | |
Wie viele waren bei den NS-nahen Deutschen Christen, wie viele bei der | |
Bekennenden Kirche? | |
Ungefähr die Hälfte der 729 Pastoren war Mitglied der Bekennenden Kirche, | |
ein Viertel bei den Deutschen Christen und ein weiteres Viertel | |
kirchenpolitisch neutral. | |
War die Bekennende Kirche nicht ein Hort des Widerstands? | |
Nein. Wenn es überhaupt Widerstand gab, dann zwar ausschließlich in der | |
Bekennenden Kirche. Aber er blieb auch dort die Ausnahme. | |
Wie gefährlich war es für Pastoren, Widerstand zu leisten? [2][Pastor | |
Friedrich Stellbrink] – einer der „Lübecker Märtyrer“ – wurde 1943 | |
hingerichtet. | |
Ja, dieser Fall ist relativ bekannt. Da Lübeck damals eine eigene | |
Landeskirche war, ist Stellbrink nicht Teil meiner Untersuchung. Und von | |
den 729 schleswig-holsteinischen Pastoren wurde „nur“ einer im KZ ermordet, | |
weil er sich 1945 weigerte, noch mehr Ost-Flüchtlinge aufzunehmen – ein Akt | |
staatlicher Willkür. Insgesamt boten die Kirchen aber einen guten | |
Schutzraum. | |
Für wen zum Beispiel? | |
Pastor Friedrich Slotty etwa blieb, obwohl er sich zwischen 1934 und 1939 | |
immer wieder regimekritisch äußerte, unbehelligt. Er nahm Juden in Schutz | |
und erklärte seinen Konfirmanden, dass der Erste Weltkrieg ohne die für | |
Deutschland kämpfenden jüdischen Soldaten viel früher verloren gewesen | |
wäre. Er hat Hitler attackiert und ihn in seinen Predigten Emporkömmling | |
und Blutsauger genannt. Vor Gericht wurde er zweimal freigesprochen. 1939 | |
versetzte ihn die Landeskirche in den Ruhestand. Allerdings bekam er | |
weiterhin sein Gehalt ausgezahlt und übernahm Vertretungen in anderen | |
Kirchengemeinden. Das zeigt, welchen Handlungsspielraum Pastoren hatten – | |
den die meisten nicht nutzten. | |
Auch Boye Gehrckens nicht. | |
Im Gegenteil. Er ist schon 1930 – drei Jahre vor Hitlers „Machtergreifung“ | |
– sowohl in die NSDAP als auch in die SA eingetreten. | |
In Hitlers Schlägertrupp? | |
Ja. Man wundert sich, wie viele Pastoren der SA beitraten – ungefähr 140 | |
von ihnen. Für einige konnte ich konkrete Gewalttätigkeiten nachweisen. Sie | |
nahmen an sogenannten Saalschlachten teil oder prügelten sich auf der | |
Straße mit Kommunisten. | |
Wurden Pastoren auch zu Denunzianten? | |
Ja, ungefähr 20 von ihnen haben Menschen, meist Amtsbrüder, an die Gestapo | |
oder die Kirchenbehörde verraten. Einer räumte sogar ganz frei ein, gern | |
als Gestapo-Informant tätig zu sein. In Hamburg-Wandsbek zum Beispiel hat | |
ein Propst einen seiner Pastoren aus dem Amt gedrängt, der mit einer | |
Christin jüdischer Herkunft verheiratet war und sich nicht scheiden lassen | |
wollte. Der Propst hat ihn an verschiedenen Stellen denunziert, bis er aus | |
dem Dienst entlassen wurde. | |
Waren Pastoren in Schleswig-Holstein regimetreuer als anderswo? | |
Das kann ich nicht beantworten, denn dies ist bundesweit das erste Mal, | |
dass das für eine Landeskirche komplett erhoben wurde und dass eine solide | |
empirische Grundlage existiert. Schleswig-Holstein war allerdings eine sehr | |
frühe und markige NS-Hochburg, und man kann vermuten, dass manche Dinge | |
hier extremer ausfielen als andernorts. | |
Warum kommt diese Studie erst 77 Jahre nach Kriegsende? | |
Weil die Aufarbeitung – wie in vielen Bereichen – auch hier lange gestockt | |
hat. Aber seit der Jahrtausendwende zeigt die evangelische Kirche ein | |
echtes Interesse an der Aufarbeitung, die Nordkirche hat das Projekt | |
unterstützt. Seitdem hat es auch kritische Studien gegeben, die das Bild | |
von der Bekennenden Kirche als Widerstandsgruppierung hinterfragen. Bislang | |
hat sich das aber weder in der Forschung noch im öffentlichen Bewusstsein | |
durchgesetzt. | |
Wie erging es den NS-treuen Pastoren eigentlich nach 1945? | |
Wie in der gesamten deutschen Nachkriegsgesellschaft wurden sie auch in der | |
Kirche [3][praktisch nicht entnazifiziert]. Hinzu kommt, dass sowohl die | |
evangelische als auch katholische Kirche nach 1945 darangingen, Mythen von | |
sich selbst als Widerstands- und Opfergruppe zu erschaffen. So begann man | |
nach 1945, Opferlisten zusammenzustellen, anstatt zu prüfen, wer | |
NSDAP-Mitglied gewesen war. Dieses Narrativ wurde von der Forschung dann | |
erst mal übernommen und noch lange so tradiert. | |
15 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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