| # taz.de -- Erschreckende Kontinuität zur NS-Zeit: Unter dem weiten Mantel der… | |
| > Die Landeskirchen Schleswig-Holsteins hatten bis weit in die 1960er-Jahre | |
| > keine echte Entnazifizierung bewerkstelligt. Im kirchlichen Dienst fanden | |
| > Massenmörder Unterschlupf. | |
| Bild: Sieht harmlos aus, hat aber ein Hakenkreuz im Fachwerk: Lutherkirche in H… | |
| HAMBURG taz | Ernst Szymanowski-Biberstein hatte ein sehr langes Leben: Er | |
| starb 1986 im Alter von 87 Jahren in Neumünster. Von einem sehr langen | |
| Leben kann man auch deshalb sprechen, weil der NS-Verbrecher 1948 im | |
| Nürnberger Einsatzgruppenprozess zum Tode verurteilt worden war. | |
| Szymanowski-Biberstein war 1943 verantwortlich für die Ermordung von 2.000 | |
| bis 3.000 Menschen in der Ukraine. Dennoch wurde er 1951 zu lebenslanger | |
| Haft begnadigt – und 1958 sogar freigelassen. | |
| Wesentlich dazu beigetragen hatte der Propst von Neumünster. Das war | |
| konsequent, denn Szymanowski-Biberstein hatte eine Vergangenheit in der | |
| evangelischen Kirche. In der Vita des studierten Theologen war nicht nur | |
| der Massenmord verzeichnet, sondern auch Tätigkeiten als Pastor und Propst | |
| in Kaltenkirchen, Segeberg und Neumünster, wo er dann nach seiner | |
| Entlassung auch Arbeit in der kirchlichen Verwaltung fand – zumindest für | |
| kurze Zeit. | |
| Der Name Szymanowski-Biberstein steht für eine der vielen | |
| „Gruselgeschichten“ im ersten Teil der Studie „Neue Anfänge? Der Umgang … | |
| Evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum | |
| Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien“. | |
| Von „Gruselgeschichten“ spricht der Autor Stephan Linck selbst. Der | |
| 49-Jährige ist in Kiel für die Evangelisch-Lutherische Kirche in | |
| Norddeutschland als Historiker und Gedenkstättenbeauftragter tätig, hat | |
| aber auch zu anderen Themen veröffentlicht, etwa den Band „Der Ordnung | |
| verpflichtet: Deutsche Polizei 1933–1949“. | |
| „Neue Anfänge?“ ist ein Forschungsprojekt im Auftrag seines Arbeitgebers. | |
| Der erste Band umfasst die Zeit bis 1964, als das endete, was Linck „die | |
| letzte große Ära des Nationalprotestantismus“ nennt. Der hatte sich einst | |
| gut mit dem Nationalsozialismus ergänzt und konnte im Antikommunismus der | |
| frühen Nachkriegszeit weiterleben. Ein zweiter Band, der die Zeit bis 1989 | |
| umfassen soll, ist in Arbeit. | |
| ## Der Bonhoeffer-Bonus | |
| Die Auseinandersetzung der Evangelischen Kirche in Schleswig-Holstein und | |
| Hamburg mit dem Nationalsozialismus – sie bestand nach 1945 vor allem in | |
| einer „beachtlichen Verdrängungsleistung“, so Linck. Dass die Kirchen damit | |
| davonkamen, hat auch mit den Rahmenbedingungen der Entnazifizierung in der | |
| britischen Besatzungszone zu tun. Anders als die Amerikaner, die sich „eine | |
| stärkere moralische Haltung“ zur Entnazifizierung leisten konnten, hätten | |
| die Briten aus finanziellen Gründen lediglich ein „Sparflammenkonzept“ | |
| vorgesehen, wie Linck konstatiert. | |
| Hinzu kam, dass „die Alliierten ein positives Bild von der evangelischen | |
| Kirche hatten. Es war geprägt von Widerstandskämpfern wie Martin Niemöller | |
| und Dietrich Bonhoeffer, die allerdings alles andere als repräsentativ | |
| waren. Dies alles führte dazu, dass die Entnazifizierung den Kirchen im | |
| Wesentlichen selbst überlassen blieb. Mehr als eine „überschaubare | |
| Selbstreinigung“ sei nicht dabei herausgekommen, meint Linck. | |
| Und mancherorts nicht einmal das. In der Landeskirche Eutin war sogar das | |
| genaue Gegenteil der Entnazifizierung zu beobachten: eine Renazifizierung. | |
| Zu verdanken war sie der Einstellungspolitik des Landespropstes Wilhelm | |
| Kiekbusch. | |
| „Was in anderen Landeskirchen klandestin geschah, hier wurde es öffentlich | |
| vollzogen“, schreibt Linck. „Der öffentliche Einsatz für Theologen mit | |
| NS-Vergangenheit und ihre Einstellung in der Eutiner Landeskirche sicherte | |
| dem Landespropst eine zunehmende Popularität vor Ort.“ So stieg der | |
| Nazi-Förderer Kiekbusch 1961 sogar zum Landesbischof auf. | |
| Einer der Profiteure der „Renazifizierung“ in der Landeskirche Eutin war | |
| Hugo Rönck, Protagonist einer weiteren „Gruselgeschichte“ in „Neue | |
| Anfänge?“. Gewiss, er war kein Massenmörder wie Ernst | |
| Szymanowski-Biberstein, er hatte aber derart viel Ungutes getan, dass es | |
| nur schwer nachzuvollziehen ist, warum man ihn von 1947 bis 1976 als Pastor | |
| wirken ließ. | |
| Rönck war einer der führenden Repräsentanten der nationalsozialistischen | |
| „Deutschen Christen“ in Thüringen gewesen, an seinem, wie Linck es nennt, | |
| „kirchenzerstörerischen Verhalten“ und seiner „antichristlichen | |
| Kirchenpolitik“ konnte es keinen Zweifel geben. So gesehen hat in Eutin | |
| mehr als ein Vierteljahrhundert ein Antichrist gepredigt. | |
| Die ausgeprägte Nächstenliebe dürfte auch nicht zu den Eigenschaften des | |
| SS-Hauptsturmführers Hans Beyer gehört haben, der in der NS-Zeit in Prag | |
| Handlanger von Reinhard Heydrich, dem Leiter des dortigen | |
| Reichssicherheitshauptamts, gewesen war. 1947 stellte ihn die Leitung der | |
| Evangelischen Kirche in Schleswig-Holstein als Leiter ihrer | |
| Landespressestelle ein. | |
| De facto fungierte er zwar nicht als Pressesprecher, vielmehr erinnerte | |
| seine Art der „Pressearbeit fatal an nachrichtendienstliche Tätigkeit“, so | |
| Linck. Das machte die Sache natürlich nicht besser. Beyer war danach noch | |
| ein weiterer Karrieresprung vergönnt: Von 1951 an wirkte er zehn Jahre als | |
| Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule | |
| Flensburg. | |
| In vielen Episoden von Lincks aufschlussreichem Buch spielt Wilhelm | |
| Halfmann, der 1964 verstorbene Regionalbischof von Holstein, eine Rolle. Er | |
| war eine prägende Figur der schleswig-holsteinischen Landeskirche in der | |
| Nachkriegszeit. Seine ideologische Entwicklung ist insofern bemerkenswert, | |
| als er 1936 das antisemitische Pamphlet „Die Kirche und der Jude“ verfasst | |
| hatte. | |
| Als dieses Werk in der Zeit zwischen 1958 und 1960 wieder in die Diskussion | |
| geriet, distanzierte sich Halfmann zwar von Teilen des Inhalts, verteidigte | |
| aber weiterhin die Richtigkeit seines „theologischen Ansatzes“, den er in | |
| dem Text vertreten hatte. In einem Brief an einen Gleichgesinnten beklagte | |
| Halfmann 1960 etwas unelegant, dass man öffentlich über die | |
| „antichristliche Beeinflussung“ der „deutschen Arbeiter durch jüdischen | |
| Einfluss“ ja mittlerweile nicht mehr sprechen könne, „ohne dass ein | |
| fürchterliches Geschrei erhoben wird“ – und das, obwohl solche „Urteile�… | |
| doch „richtig“ und „volksgeschichtlich bestätigt“ seien. | |
| Eine nicht unwesentliche Rolle bei der Aufdeckung von Halfmanns | |
| Vergangenheit spielte ein Journalist, der sich später in der Bundespolitik | |
| einen Namen machen sollte: der Sozialdemokrat Jochen Steffen. Er war damals | |
| Landesvorsitzender der Jusos und Redakteur der Wochenzeitung Flensburger | |
| Presse. In dieser Funktion schrieb er 1958 einen offenen Brief an Halfmann. | |
| ## Symbiose mit der CDU | |
| Wer sich mit der Historie der evangelischen Kirche Schleswig-Holsteins | |
| beschäftigt, kommt nicht umhin, auch ihre Beziehung zur CDU zu analysieren. | |
| Diese sei „symbiotisch“, beziehungsweise stärker ausgeprägt gewesen als in | |
| anderen Bundesländern, meint Linck. Es sei „wohl einmalig, dass ein | |
| Landesminister auf Empfehlung der Kirchenleitung ernannt wird“, ergänzt er. | |
| So geschah es 1955, es ging um den Posten des Kultusministers, und auch | |
| hier spielte wieder die Person Halfmann eine Rolle. Mit einem Schreiben an | |
| den Ministerpräsidenten Kai-Uwe von Hassel fädelte Halfmann ein, dass Edo | |
| Osterloh, ein Mann aus den eigenen Reihen, den Posten bekam. Der war vor | |
| seiner politischen Karriere als Pfarrer und Oberkirchenrat tätig gewesen. | |
| In den folgenden Jahren war Osterloh als Minister in allerlei Skandale | |
| verwickelt, ehe er 1964 Suizid beging. In einem anderen zeitgeschichtlichen | |
| Zusammenhang spielt Osterloh, nach dem heute ein Studentenwohnheim der Uni | |
| Kiel benannt ist, auch eine Rolle: Seine Nichte und Patentochter war Ulrike | |
| Meinhof. | |
| ## Stephan Linck: Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der | |
| NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in | |
| Nordelbien. Lutherische Verlagsgesellschaft, 2013, 352 Seiten, 17,95 Euro | |
| 26 Dec 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| René Martens | |
| ## TAGS | |
| NS-Forschung | |
| USA | |
| Hakenkreuz | |
| Aufarbeitung | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historiker über Pastoren in der NS-Zeit: „80 Prozent haben kollaboriert“ | |
| Helge-Fabien Hertz hat die Biographien aller evangelischen Pastoren | |
| untersucht, die in der NS-Zeit in Schleswig-Holstein gearbeitet haben. | |
| NS-Kriegsverbrecher in den USA: Früherer KZ-Aufseher verhaftet | |
| Dem 89-jährigen ehemaligen Auschwitz-Wachmann Johann Breyer wird Beihilfe | |
| zum Mord an hunderttausenden Juden vorgeworfen. Die deutsche Justiz | |
| ermittelt seit 2012. | |
| Kirchen aus der Nazi-Zeit: Ein schwieriges Erbe | |
| Sie sehen aus wie nordische Götterburgen oder sind statt nach Osten nach | |
| Norden ausgerichtet. Während man dies bauliche Erbe in Lübeck verändern | |
| will, versteckt man sich in Kiel und Hamburg hinter Ästhetik und dem | |
| Denkmalschutz. | |
| Kirche im Nationalsozialismus: „Jesus galt als Märtyrer und Held“ | |
| Nazitreue Protestanten forderten die Abschaffung des Alten Testaments und | |
| die Vereinigung von christlichen und germanischen Göttern, sagt der Kieler | |
| Historiker Stephan Linck. |